Infografik

Sitzen bleiben nur auf Antrag – warum die Forschung Bremen Recht gibt

Die Klassenlehrerin übergibt das Zeugnis eines Schülers
In Bremen und Bremerhaven muss kein Kind sitzenbleiben, wenn die Noten schlecht sind. Stattdessen setzt das Land auf individuelle Förderung. (Symbolbild) Bild: dpa | David Inderlied

Bremen hat die wenigsten "Sitzenbleiber" in Deutschland. Was angesichts schlechter Pisa-Ergebnisse fraglich erscheint, ergibt Studien zufolge Sinn. Dies sind die Gründe.

In Bremen und Bremerhaven bleiben immer weniger Schülerinnen und Schüler sitzen – weil es so gewollt ist. Denn im Land Bremen ist das Wiederholen für viele Kinder seit 2009 freiwillig, ebenso wie inzwischen auch in Hamburg, Berlin, Brandenburg und einigen anderen Bundesländern. Auch im benachbarten Niedersachsen wird die Abschaffung seit 2013 diskutiert.

Die Folgen der Bremer Entscheidung spiegeln sich deutlich in den Zahlen wider. So hat sich die Quote der Klassenwiederholer an Bremens öffentlichen Grundschulen, Oberschulen und Gymnasien drastisch verringert. An Bremens Oberschulen liegt sie aktuell nur noch bei einem Sechstel des Niveaus von vor zwanzig Jahren (siehe Grafik).

Klassenwiederholer im Land Bremen pro Schuljahr

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Doch macht das Abschaffen der "Ehrenrunde" angesichts des schwachen Abschneidens Bremens bei vielen Bildungsvergleichstest überhaupt Sinn? Ja, sagen zumindest Forscher. Denn in vielen Studien wird mittlerweile hinterfragt, was in Deutschland lange als gewiss galt: Dass Wiederholer erstens in einem neuen Lernumfeld wieder mehr lernten und dass zweitens auch die versetzten Mitschüler durch wieder einheitlichere Lernstände profitierten.

Studien nähren Zweifel am Nutzen des Sitzenbleibens

Eine der einflussreichsten Forschungsarbeiten, die diese Argumentation hinterfragt hat, war 2009 eine von der Bertelsmann-Stiftung in Auftrag gegebene Studie mit dem Titel "Klassenwiederholungen – teuer und unwirksam". Ihren empirischen Befunden zufolge schadete das Sitzenbleiben offenbar den damals pro Schuljahr rund 250.000 Betroffenen in vielen Fällen mehr, als es ihnen half. So zeigten weder die nicht versetzten Schülerinnen und Schüler noch diejenigen, die in der Klassengemeinschaft verblieben, eine bessere Lernentwicklung. Darüber hinaus bezifferte die Studie die Kosten des Sitzenbleibens für das Bildungssystem auf knapp eine Milliarde Euro im Jahr für zusätzlichen Personalaufwand, mehr Schulverwaltung und Sachkosten.

Eine Lehrerin hilft einem Schüler während des Unterrichts (Symbolbild)
Bremen setzt auf individualisiertes Lernen, je nach Leistungsstand und Neigungen der Schülerinnen und Schüler. (Symbolbild) Bild: dpa | Robin Utrecht

Auch die Forscherinnen und Forscher der Pisa-Bildungsstudie kritisieren seit 2011 das Konzept des Klassenwiederholens. Die international angelegte und von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) koordinierte Studie kommt beispielweise zu dem Schluss, dass Sitzenbleiber in Deutschland zwar im ersten Jahr mit dem wiederholten Stoff zurechtkommen. Oft bekommen sie dann aber im zweiten Jahr wieder Probleme in der Schule, wenn wieder neuer Unterrichtsstoff auf dem Plan steht.

Hinzu kommt: Gerade in den laut Pisa-Studie erfolgreichen Ländern wie Finnland oder Schweden spielt das Konzept des Sitzenbleibens praktisch keine Rolle.

Bremer Forscher sehen "Ehrenrunde" kritisch

Bremer Bildungswissenschaftler zweifeln ebenfalls am Nutzen der "Ehrenrunde". "Ein negativer Nebeneffekt des Sitzenbleibens kann sein, dass Schülerinnen und Schüler als Versager bezeichnet werden", sagt Christian Palentien, der an der Uni Bremen zum Thema Bildung und Sozialisation lehrt. So müssten die Betroffenen nicht nur Noten rechtfertigen, sondern auch mit psychischen und sozialen Effekten umgehen, was sie doppelt belaste. "Schüler aus einem Sozialraum herauszureißen und sie irgendwo einzupflanzen, das ist aus meiner Sicht unzumutbar", sagt Palentien.

Auch Florian Schmidt-Borcherding, Professor für Empirische Lehr-Lern-Forschung und Pädagogische Psychologie an der Uni Bremen, steht dem Sitzenbleiben kritisch gegenüber. "Man kann schon hinterfragen, ob das Wiederholen des Jahrgangs nicht eine zu grobe Form der Anpassung ist", sagt er. Die Idee hinter dem Konzept sei: "Man nimmt die Schlechten raus, weil man dann mit den anderen homogen weitermachen will." Das Motto laute dann: Wer nicht mitkomme, der könne ja sitzenbleiben. "Das wäre aber fatal, wenn das unsere Form der Anpassung wäre", sagt Schmidt-Borcherding.

Was Bayern und Bremen unterscheidet

Homogenisierung statt Differenzierung ist hingegen der Weg, den bislang Bundesländer wie Bayern gehen, die im Verhältnis zu Bremen deutlich mehr Klassenwiederholer haben. Gleichzeitig schneidet Bayern aber auch bei Schülerleistungstest oft besser ab als Stadtstaaten wie Bremen.

Wenn in homogenen Klassen unterrichtet werde, sei das für die Schulleistung förderlich, sagt Palentien. "Wenn sie hingegen heterogene Klassen haben, wie in den Stadtstaaten, dann wirkt sich das auch ein Stück weit auf die Schulleistung aus." Das heiße aber nicht, dass die Leistungen der bayerischen Schüler besser seien, sagt der Bildungswissenschaftler. "Sie haben in Bayern einfach ein leichteres Spiel in den Schulen." Denn einen Flächenstaat mit einem Stadtstaat wie Bremen zu vergleichen, sei schwierig. "In bayerischen Großstädten wie Nürnberg oder München werden Sie eine ähnliche Situation mit den gleichen Herausforderungen der Heterogenität vorfinden wie auch in Bremen", sagt der Forscher.

Bremen setzt auf individuelle Förderung

Doch wie funktioniert eine individuelle Förderung, wie sie in Bremen verfolgt wird? "Das beginnt schon in der Lehramtsausbildung, wo die individuelle Förderung vermittelt werde", sagt Palentien.

Nicht mehr ein Arbeitsblatt für 28 Schüler, sondern unterschiedliche für verschiedene Gruppen.

Christian Palentien, Bildungs- und Erziehungswissenschaftler an der Universität. Bremen

Darüber hinaus werde in Bremen viel getestet und verglichen. So werden Kinder in Bremen zum Beispiel in den Hauptfächern Mathematik und Englisch ab der siebten Klasse entsprechend ihrer individuellen Leistungsfähigkeit auf grundlegendem oder erweitertem Anforderungsniveau unterrichtet. Diese "Fachleistungsdifferenzierung" wird später auch in den Fächern Deutsch sowie Physik und Chemie vorgenommen.

Darüber hinaus werden die Klassen eines Jahrgangs an Bremer Schulen als Einheit geführt, und zwar von den Jahrgängen 5 bis 10 durch so genannte Jahrgangsteams. "Das ist ein Team-Teaching-Ansatz", sagt Palentien. Das heißt, eine Gruppe von Lehrkräften koordiniert die Unterrichtsgestaltung, Differenzierung, Beratung und Förderung gemeinsam.

Wiederholen, wenn das Kind es wünscht

Und wenn doch einmal die Situation auftritt, dass ein Kind das Bedürfnis hat, eine Klasse zu wiederholen, dann ist das weiterhin möglich. Ohne die Einschätzung der Schülerinnen und Schüler selbst gehe dabei aber nichts, sagt Palentien. Denn im Gegensatz zu früher werde heute kaum noch eine Entscheidung in und um Schule getroffen, ohne das Kind zu beteiligen. "Da gibt es viele Gespräche mit allen Beteiligten, Probebesuche und so weiter."

Ein Schüler sitzt bei einer Klassenarbeit am Tisch und stützt mit der Hand nachdenkend den Kopf.

Mehr Schüler bleiben bundesweit sitzen – aber nicht in Bremen

Bild: dpa | Sven Simon

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Dieses Thema im Programm: Bremen Vier, News, 30. Januar 2023, 13 Uhr