Interview

Bremer Arzt: "Massen an kranken Kindern stehen vor unseren Türen"

Ein Arzt untersucht ein Kind.
Bild: dpa | Sebastian Gollnow

Überfüllte Praxen, Teams am Rande der Erschöpfung: Kinder- und Jugendärzte seien laut Berufsverband "am Limit". Wie ist die Lage in Bremen? Kinderarzt Marco Heuerding berichtet.

Die Kinder- und Jugendärzte in Deutschland schlagen Alarm: "Dramatisch" sei die Situation in den Kinder- und Jugendarztpraxen im Land – Eltern kranker Kinder finden kaum noch freie Arzttermine für den Nachwuchs. Auch in Bremen kennen viele Eltern das Problem. Wie dramatisch die Situation aus Sicht der Ärzte im Land ist, erklärt Marco Heuerding, der Sprecher der Kinder- und Jugendärzte in Bremen.

Herr Heuerding, was macht die Situation in Kinderarztpraxen momentan so schwierig?

Zurzeit grassieren viele Infektionswellen gleichzeitig: Das Respiratorische Synzytial-Virus ist zum Beispiel sehr stark verbreitet, aber wir haben auch viele Influenza-Fälle. Und dazu gibt es natürlich den üblichen Betrieb. All das führt dazu, dass jeden Morgen wirklich Massen an kranken Kindern vor unseren Türen stehen, wenn wir jeden Morgen aufschließen – es kommen 50, 70, 100 Kinder, die man beurteilen muss. Es geht wirklich im Minutentakt. Gleichzeitig haben wir gerade auch viele krankheitsbedingte Personalausfälle – teilweise auch, weil unsere Mitarbeiter sich um ihre eigenen kranken Kinder kümmern müssen. Das ist die Situation in den Praxen. Dazu kommt: Einige Medikamente sind knapp oder nicht verfügbar, zum Beispiel Fiebersäfte, Zäpfchen, aber auch bestimmte Antibiotika.

Der Kinderarzt Marco Heuerding steht mit einem Stethoskop um den Hals in einem Flur.
Der Bremer Kinderarzt Marco Heuerding. Bild: Radio Bremen

Ihr Verband spricht davon, dass die medizinische Versorgung von Kindern und Jugendlichen akut bedroht ist. Was genau heißt das für Bremen?

In Bremen ist es derzeit einfach wahnsinnig schwierig, einen Kinderarztplatz zu finden. Ich hatte neulich ein Kind in der Praxis, das hatte 40 Grad Fieber – und konnte in vier Praxen nicht behandelt werden, weil diese einfach am Limit waren. Und diese Überfüllung wird langsam zum Dauerproblem. Um ein Kind zu untersuchen, braucht man Zeit. Man muss empathisch sein und einen Zugang zu dem Kind finden, dem es ja gerade nicht gut geht, das vielleicht gerade Schmerzen hat. Man bräuchte einfach mehr Ressourcen, um alle von ihnen wirklich gut behandeln zu können. Die haben wir aber nicht.

Wie konnte es dazu kommen?

Schon im Sommer, wenn ja normalerweise eine gewisse Infektionspause herrscht, hatten wir in diesem Jahr viele Kinder in der Praxis. Diese Kinder sind mit Viren in Kontakt gekommen, die ihr Körper wegen der Corona-Maßnahmen nicht kannte. Nach der Pandemie gab es außerdem mehr Fälle von Adipositas, auch psychische Erkrankungen von Kindern. Daneben haben die Wellen von Geflüchteten für ein höheres Aufkommen in unseren Praxen gesorgt. Es waren dabei teilweise Familien in unserer Praxis, die kein Deutsch konnten. Wir haben uns dann mit Übersetzungsprogrammen verständigt, das klappte zwar inhaltlich weitgehend, kostete aber natürlich noch mehr Zeit – Zeit, die wir nicht haben.

Nach der sogenannten Bedarfsplanungsrichtlinie des Bundes gilt Bremen bei Kinderärzten als überversorgt – wie passt das zu Ihren Warnungen?

Für die Spitzenbelegung, diese Dauerbelastung ist unser System einfach nicht ausgelegt. Deswegen passt es nicht, dass Bremen überversorgt ist. Es könnte eher noch schlimmer werden: Denn welcher junge Arzt stellt sich in Zukunft in eine Kinderarzt-Praxis, um zehn Stunden lang 50 bis 100 Patienten zu versorgen? Das schlaucht. Ich bin ganz ehrlich: Wir sind hier nach einem Arbeitstag ziemlich durch. Da muss man schon sehr für den Beruf als Kinderarzt brennen.

Auch Kinder-Kliniken deutschlandweit klagen über hohe Auslastung. Wirkt sich das auch auf Ihre Praxen aus?

Ja, wegen der Bettenknappheit bekommen oft nur die schwereren Fälle einen Platz. Teilweise werden Kinder auch eher entlassen. So kann es dazu kommen, dass wir in unseren Praxen Kinder behandeln, die eigentlich stationär behandelt werden müssten.

Viele Eltern werden von Ihren Worten besorgt sein. Ist es realistisch, dass ein krankes Kind, das einen Arzt braucht, keinen Termin bekommt?

Naja, teilweise ist es aktuell schon so. Wir schauen jeden Morgen erst einmal, welche Fälle Priorität haben. Wir triagieren also, denn wir können einfach nicht alle sehen.

Das heißt: Es bekommen nicht alle Kinder die Kinderarztbehandlung, die sie eigentlich bekommen sollten.

Marco Heuerding, Sprecher der Kinder- und Jugendärzte in Bremen

Was können Sie Eltern dann mit auf den Weg geben?

Grundsätzlich hilft es uns, wenn wirklich nur die Kinder zu uns kommen, die wirklich eine ärztliche Untersuchung brauchen. Aber das ist natürlich nicht immer so einfach zu beurteilen, vor allem, wenn keine großen medizinischen Vorkenntnisse da sind.

Müssen sich Eltern Sorgen machen, deren Kinder Medikamente brauchen?

In der Regel gibt es Alternativen zu bestimmten Antibiotika, Fiebersäfte beispielsweise können Apotheken für Kinder auch aus Mitteln für Erwachsenen anrühren. So lässt sich das meistens lösen. Aber auch das alles kostet natürlich Zeit und Ressourcen.

Was sind die Stellschrauben, an denen die Politik drehen muss, um die Probleme möglichst schnell in den Griff zu bekommen?

Wir brauchen einfach dringend neue Ressourcen – vor allem Personal –, um die Kinder und Jugendlichen in Bremen angemessen versorgen zu können. Ansatzpunkte wären einerseits eine neue Bedarfsplanung der Kinder- und Jugendärzte, damit Personal und Geld gut verteilt werden können. Andererseits muss auch das Personal in den Kinderkliniken aufgestockt werden, damit dort Kinder auch wieder angemessen betreut werden können – notfalls muss das Personal von anderen Stationen kommen.

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Dieses Thema im Programm: Bremen Vier, Die Vier am Morgen, 01. Dezember 2022, 08:10 Uhr