Mit Ende 20 wusste diese Bremerin nicht, ob sie bald sterben wird
Schilddrüsenkrebs reißt Susanne Wächter mitten aus dem Leben. Doch fast schlimmer als der Krebs sind die Begleiterscheinungen, die die junge Frau in ein tiefes Loch stürzen lassen.
Plötzlich ist da dieser Schmerz im Hals, sind da diese Verdickungen, und für Susanne Wächter beginnt ein banges Umherziehen von Praxis zu Praxis, Arzt zu Arzt. Sie ist 28, als sie die Diagnose Schilddrüsenkrebs bekommt.
Für eine der ersten Behandlungen muss sie in einem Bunker radioaktive Kapseln schlucken. "Sechs Tage in einem Keller ohne Kontakt hinter einer Betonmauer. Das Essen wurde einem zugeschoben. Besuch gab’s nicht, nur das Telefon. Zeit zum Durchdrehen." Irgendwann kommt Wächter raus, muss vor ein Messgerät, keiner erklärt einem irgendwas, kritisiert sie heute. Entlassung, alle Klamotten aus, schnell duschen, was anderes anziehen, dann wieder zum Messen, sie bekommt die Anweisung, die Klamotten zu verbrennen, keinen zu umarmen und einen Bogen um Schwangere und Kinder zu machen, erinnert sich die heute 56-Jährige.
Bürokratie als zusätzliche Belastung
Die junge Frau folgt den Anweisungen der Fachleute, bringt Therapien, Rückfälle und Operationen hinter sich, kämpft sich durch den Bürokratie-Dschungel rund um Krankenhausrechnungen, zuständige Leistungsträger bis hin zu Rentenbezügen. Den Kontakt mit dem Arbeitsamt empfindet sie als sehr belastend. "Die haben mich natürlich ständig angerufen, ich solle mich bewerben, ich solle vorbeikommen. Ich sag: Geht gerade nicht, ich bin im Krankenhaus, ich darf auch kein Auto fahren. 'Ja wann sind Sie denn wieder fit?' Ich sag': Kann ich doch nicht sagen, vielleicht sterbe ich ja nächste Woche.'"
Geplatzter Kinderwunsch
Susanne Wächter trägt ein Trauma davon. Denn bei einer schweren Operation etwa ein Jahr nach der Diagnose erwacht sie aus der Narkose, hat ein Nahtoderlebnis, was sie im Detail nicht ausführen will. Dazu kommt die neue Realität, aufgrund der radioaktiven Medikamente keine Kinder mehr bekommen zu können, zumindest nicht ohne erhebliches Risiko für das ungeborene Leben.
Eine Radio-Jod-Mitpatientin hat abgetrieben, ein Arzt sagt ihr, ja, die eigene DNA könne natürlich durch die Therapie geschädigt sein. Das zu akzeptieren ist für Wächter am Anfang sehr schwer, Gynäkologen-Besuche werden zu Tortur.
Dann sitzt man da und hört im Nebenzimmer den Herzschlag von einem Ungeborenen. Da könnte ich schon wieder heulen. Das war auch nochmal so ein Schlag in die Magengegend.
Susanne Wächter
Diese Schilddrüsenkrebs-Zäsur inklusiver aller Behandlungs-Odysseen hinterlässt deutliche Spuren, die erst fünf, sechs Jahre später als solche erkannt werden, sagt Wächter. Zuvor begegnen ihr in ambulanten Therapien ratlose Therapeuten, dann wird Wächter von der Rentenkasse nochmal in Reha geschickt, und da war dieser junge Therapeut: "Der hat sich alles angehört und sagte: Du bist traumatisiert. Und das war für mich ein Befreiungsschlag, wo ich dachte: Ja, du spinnst dann ja doch nicht."
Auch wenn anschließend weniger Trauma-Therapie bewilligt als gebraucht wird, Wächter erholt sich im Harz, kann sich wieder verstehen, lernt damit zu leben, dass es Geräusche, Gerüche und ähnliches gibt, die sie triggern können, ohne dass sie es weiß. Dann fühlt sie sich plötzlich wieder wie im Krankenhaus, auf dem OP-Tisch, kommt nicht raus. Doch sie behält sich ihren Optimismus, ihre Gelassenheit und Souveränität trotz aller widrigen Umstände.
Es gibt eine Susanne vor dem Krebs und eine Susanne nach dem Krebs. Ich musste mich neu entdecken. Ja, ich bin so ein schrecklich positiv denkender Mensch, trotz alledem.
Susanne Wächter
Ihr Vater ist in diesen schweren Zeiten der Fels in der Brandung, bezeichnet sie als Stehaufmännchen. Ihr könne so viel passieren, sie wippe ein bisschen hin und her und sei wieder gerade. Ihre Mutter hatte damals, parallel zur ersten OP, einen Herzinfarkt, liegt eine Etage über Wächter im Krankenhaus. Auch das ein Schock für die Frau Ende 20.
Die große Liebe gefunden
Vor mehr als 20 Jahren findet Wächter die Liebe ihres Lebens, trotz einer von einer gemeinsamen Freundin ausgesprochenen Warnung an ihren Zukünftigen. Einige Jahre nach der zweiten, schweren Operation spielt Wächter in einer Laiengruppe die Magenta in der Rocky Horror Picture Show. Ihr Zukünftiger sieht zu und fragt die gemeinsame Freundin: Oh, wer ist denn das? "Ja, das ist Susanne, die hat Krebs, die brauchst du nicht kennenzulernen“, sagte die Freundin, eine Warnung vor der Krankheit.
Doch es kam anders: "Wir sind uns dann halt immer mal wieder über den Weg gelaufen, haben gesprochen und dann Weihnachten viel telefoniert. Er hatte 800 Mark und ich 500 Mark Telefonkosten. Und danach kannten wir uns", erzählt Wächter. Die beiden heiraten, vereinbaren eine Codezahl, die Wächter sagt, wenn es ihr plötzlich nicht mehr gut geht, sie aus der Situation raus muss. "Das war eine Zeit lang jeden Tag, aber das wird immer weniger. Jetzt habe ich es vielleicht einmal im Monat."
"Es lohnt sich, nicht aufzugeben"
Auch wenn es ihr unangenehm ist, als Rentnerin auf Kosten anderer zu leben, ist sie dankbar und froh, dass sie noch nach dem damaligen Berechnungssystem vergütet wird. Sonst wüsste sie nicht wohin. Tatsächlich ist es für sie lange unklar, wie lange sie noch leben wird. Dann sagt sie dem Krebs: Wenn du mich umbringst, ist für dich auch Schluss. Also lass uns lieber friedlich nebeneinander her existieren.
Jeden Tag nimmt Wächter Medikamente und ist dankbar für das, was gerade ist. Es lohnt sich, nicht aufzugeben, ist ihre Bilanz. Auch wenn sie seit fünf Jahren ohne Rückfall als geheilt gilt, lebt sie mit der Spannung, dass irgendwo noch eine Resttumorzelle schlummern könnte.