Wie zwei Bremerinnen den Gewaltausbruch in Nahost erlebten
Vor einem halben Jahr überfielen Hamas-Terroristen Israel. Auf Massaker und Geiselnahmen der Hamas folgte der Gegenschlag der israelischen Armee. Zwei Bremerinnen waren zu diesem Zeitpunkt in Israel – und haben den Ausbruch der Gewalt aus unterschiedlichen Perspektiven wahrgenommen.
"Wir alle waren Opfer im Gazastreifen", klagt Hanan Khalaf. Die 42-Jährige kommt gebürtig aus Gaza, lebt seit 18 Jahren in Bremen und arbeitet im Viertel als Augenoptikerin. Als der Krieg im Oktober 2023 ausbrach, war Khalaf gemeinsam mit ihrem vierjährigen Sohn Fares auf Familienbesuch in Rafah – im Süden Gazas. "Ich bin dreißig Tage da geblieben, dreißig Nächte in Angst und Sorge", erinnert sich die Palästinenserin. In den Nächten blieb die dreifache Mutter wach, lauschte den Detonationen. Immer bereit, sich schützend über ihren jüngsten Sohn zu beugen, ihm die Ohren zuzuhalten.
Ihren Sohn konnte Hanan Khalaf beschützen, nicht aber ihre älteste Schwester. "Meine Schwester Sabah ist gestorben", erzählt Khalaf. Drei Raketen schlugen am 13. Oktober in Sabahs Haus in Chan Younis – acht Kilometer nördlich von Rafah – ein. Für Sabah, ihren Mann und zwei ihrer Kinder gab es kein Entkommen. Verschüttet liegt die Familie unter den Trümmern – noch immer. Seit sechs Monaten. Es fehlen nicht nur Nahrung und Medizin, sondern auch Bagger, um die Leichen zu bergen, erklärt Khalaf.
Bremer Jüdin erlebt härtesten Tag ihres Lebens
Aus einem anderen Blickwinkel erlebte Alexandra Nozik den Ausbruch der Gewalt. Die 30-jährige Jüdin wohnt in Bremen und engagiert sich im Jungen Forum der Deutsch-Israelischen Gesellschaft. Am 7. Oktober war sie in Israel, besuchte eine Freundin in Tel Aviv. Um sieben Uhr morgens wurde sie vom Raketenalarm aus dem Schlaf gerissen. Über Social Media erfuhr sie von dem brutalen Hamas-Überfall, mehrere Stunden herrschte Ungewissheit.
In Tel Aviv selbst war es enorm still, da niemand wusste, ob und wo sich Terroristen im Land befinden. Diese Stille stand im unfassbaren Gegensatz zu den eingehenden Nachrichten und dem Wissen, dass jetzt in diesem Moment ein Massaker passiert.
Alexandra Nozik, Jüdin aus Bremen
Statt wie geplant durch Israel zu reisen, wurde Nozik urplötzlich mit dem Tod konfrontiert: "Einen Tag vor meinem Rückflug bin ich auf die Beerdigung einer jungen Frau gegangen, die mit 24 Jahren von der Hamas ermordet wurde – bei dem Festival in Re’im." Die Tote war die Cousine einer Bekannten aus NRW, führt Nozik aus, ohne ihren Namen zu nennen. 300 Trauernde kamen zu der Beisetzung in einem Vorort Tel Avivs, darunter viele junge Menschen. "Das ist das Härteste, was ich jemals erlebt habe", resümiert sie.
Reporterin Serena Bilanceri über die Stimmung im Nahen Osten
Radio-Bremen-Reporterin Serena Bilanceri hält sich in der Region auf, befindet sich aktuell in Jordanien. "Je mehr Bomben auf Gaza fallen, desto wütender werden die Menschenmengen. Diese Spannung ist nahezu tastbar, überall", berichtet sie. "Der Konflikt in Gaza, die Explosionen haben ihre Schockwellen durch die gesamte Region gesendet. In Jordanien gehen Menschen seit Kriegsbeginn täglich auf die Straße, um gegen den Krieg zu protestieren", beschreibt Bilanceri die Lage vor Ort.
"Was Ursache und was Folge ist, wer an den Spannungen schuld ist, hängt davon ab, wen man fragt", sagt die Reporterin: "Für das israelische Militär und für viele Israelis sind die Hamas und die anderen militanten Gruppen mit ihrem Hass auf Israel und ihren Angriffen schuld. Für viele Palästinenser liegt das Problem bei der israelischen Besatzung der Gebiete, bei den völkerrechtswidrigen Siedlungen und noch davor bei der Vertreibung Hunderttausender Palästinenser im Kontext der Gründung Israels."
Zurück in Deutschland: So geht es Hanan Khalaf und Alexandra Nozik heute
Der Hamas-Terror hat aus Alexandra Noziks anfänglicher Unbekümmertheit eine Horror-Reise werden lassen. Am 13. Oktober wurde die 30-Jährige per "Evakuierungsflug" frühzeitig nach Deutschland in Sicherheit gebracht. Trotzdem haben die Geschehnisse ihre Spuren hinterlassen: "Der 7. Oktober hat für mich angefangen und nie wieder aufgehört."
"Ich habe das Erlebte nicht verarbeitet – und vollständig kann man das auch nicht verarbeiten", meint Nozik. Dass sich weiterhin Israelis in den Händen der Hamas befinden, macht es für Nozik nicht einfacher: "Eine Freundin der Verstorbenen befindet sich heute noch in Hamas-Gefangenschaft. Sie wurde vom Festival als Geisel verschleppt." Allein ist Nozik mit ihren Gedanken aber nicht: "Ich habe zum Glück in Bremen genug Menschen, mit denen ich mich austauschen kann."
Hanan Khalaf gelang erst nach einem Monat im Kriegsgebiet die Ausreise aus Gaza. Am 8. November 2023 landete sie in Deutschland. Doch trotz der Freude, ihren Sohn und sich selbst in Sicherheit gebracht zu haben, blieb die Angst. "An dem Tag habe ich sehr viel geweint, weil ich nicht wusste, ob ich meine Familie in Gaza je wiedersehen werde", schildert Hanan Khalaf ihre Wiederkehr nach Deutschland.
Körperlich war ich in Bremen, aber mental bin ich noch in Gaza gewesen.
Hanan Khalaf, in Gaza geborene Bremerin
Vor allem die Nächte sind schwer für Hanan Khalaf. Auch ein halbes Jahr danach. Es wird zwar langsam besser, erklärt Khalaf, doch die Alpträume verfolgen sie, kehren wieder: "Bis jetzt träume ich noch von diesem Horror." Auch der kleine Fares sei nachhaltig traumatisiert. Doch in seiner Bremer Kita, dem Kinderhaus in der Bleicherstraße, wurde Fares gut aufgefangen: "Der Kindergarten und die Erzieher haben geholfen, ihm die Angst zu nehmen und ihn abzulenken."
Während in Bremen die Bewältigung des Erlebten vorangeht, ist eine Lösung des Nahostkonflikts in weiter Ferne. "Jeder von uns träumt von einer Heimat, wo es Sicherheit und Normalität gibt, ohne Gewalt", wünscht sich Khalaf. Ein Wunsch, den viele teilen.
Quelle: buten un binnen.