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Bruder ersticht Schwester in Bremen: Warum musste Ilham A. sterben?

Ein Mann hält sich einen Ordner vor das Gesicht.

Bruder ersticht Schwester in Bremen: Warum musste Ilham A. sterben?

Bild: Radio Bremen | Eleni Christoffers

Heute fällt voraussichtlich das Urteil im Prozess um eine Tötung aus vermeintlich verletzter Ehre in Walle. Wie es zur Tat kommen konnte, zeigen Beobachtungen aus dem Gerichtssaal.

Vier Frauen und ein Baby: An jedem der fünf Verhandlungstage sitzen sie hinten im Zuschauerraum. Die Verlobte des Angeklagten, seine drei Schwestern, eine davon mit einem Neugeborenen im Arm, wenige Wochen ist das Kind alt. Meistens schläft es, während vorne im Saal Zeugen aussagen und Sachverständige ihre Gutachten erstatten. Es weiß nicht, was hier im Gerichtssaal vor sich geht. Dass gegen seinen Onkel verhandelt wird – angeklagt wegen Mordes an der Schwester. Seine Tante Ilham A. wird das Kind nie kennenlernen. Sie starb am Abend des 9. Dezember 2023, an ihrem 23. Geburtstag, in ihrer Wohnung in der Waller Heerstraße.

Die Schwestern treten nicht etwa als Nebenklägerinnen vor dem Bremer Landgericht auf. Auch sonst hat es nicht den Anschein, als wären sie wütend auf ihren Bruder. Immer wieder tauschen die Schwestern Blicke mit dem Angeklagten aus. In Verhandlungspausen bitten sie darum, ihn umarmen zu dürfen, ihm selbst gekochtes Mittagessen mitgeben zu können. Beides lehnt die Vorsitzende Richterin ab.

Schwestern fühlen mit Täter und Opfer

Der Tod ihrer Schwester lässt sie trotzdem nicht kalt. Sie weinen, als die Vorsitzende ein Foto des Opfers zeigt, als der Gerichtsmediziner über die tödlichen Verletzungen der jungen Frau berichtet. Und doch wirkt es so, als machten sie dafür nicht den Angeklagten verantwortlich. Es ist, als wäre über die Familie ein Unglück gekommen, als wäre das 23 Jahre alte Opfer vom Blitz erschlagen worden – und nicht auf brutale Weise umgebracht worden.

Denn das hat in diesem Verfahren niemand bestritten – auch der Angeklagte nicht. Mindestens fünfmal hat er auf seine Schwester eingestochen. Zwei der Stiche waren tödlich. Eine Stichverletzung in die Brust, eine in die Schulter, geführt mit "einiger Kraftaufwendung", wie der Gerichtsmediziner ausführt. Die Stiche verletzen Lunge und Herzbeutel, Leber und Zwölffingerdarm. Nachdem der Bruder fertig ist, ruft er – noch schwer atmend – den Notruf der Polizei, wartet auf die Beamten und lässt sich widerstandslos festnehmen. Seine Tasche für das Gefängnis hat er schon gepackt. Vor der Tat hat er eine Art Abschiedsbrief geschrieben. Darin steht:

Ich habe nichts zu verlieren außer meiner Ehre. Meine Schwester versucht, eine Schlampe zu sein.

Worte des Angeklagten in Handschrift

Lebensstil seiner Schwester missfiel dem Angeklagten

Der Eingang des Landgerichts Bremen.
Das Gericht soll voraussichtlich am Mittwoch das Urteil sprechen. Bild: dpa | Sina Schuldt

Am dritten Verhandlungstag sagt der Angeklagte selbst aus. Mit dem Lebenswandel seiner Schwester sei er nicht einverstanden gewesen. Er berichtet von einem Vorfall am Bremer Hauptbahnhof im Oktober 2023, zwei Monate vor der Tat.

Mit einem anderen Mann habe er sie dort gesehen. Sie hätten die Beine übereinander geschlagen, sich geküsst – auf den Mund. "Das hat mir nicht gefallen", sagt der 24-Jährige. "Weil ich so etwas zwischen Unverheirateten in unserer Familie und Kultur nicht kenne." Die Vorsitzende Richterin fragt nach: Er habe doch auch schon mal eine Freundin gehabt? Ob er die denn nicht geküsst habe? Ja, schon, sagt der Angeklagte. Ob er mit seiner Freundin Sex gehabt habe? Ja, einmal, sagt der Angeklagte. "Warum sind Sie mit ihrer Schwester so streng, obwohl Sie selbst nicht perfekt sind?", fragt die Richterin. Darauf hat der Angeklagte keine Antwort.

Ältere Schwester suchte Hilfe beim Bruder

Berichten kann der 24-Jährige von einem Anruf, den er am Vormittag der Tat bekam. Die ältere Schwester habe ihn angerufen. Sie lebte mit Ilham A. zusammen in einer Wohnung – und erzählte von Männerbekanntschaften, manchmal sei sie nachts spät nach Hause gekommen. Die ältere Schwester war offenbar mit dieser Situation überfordert. Sie hatte Sorge, dass sich ihr Verlobter von ihr abwenden könnte. All das erzählte sie ihrem Bruder am Telefon.

Das habe ihn alles so wütend gemacht, sagt der Angeklagte vor Gericht. Deshalb habe er beschlossen, dass Ilham A. sterben müsse. Er schreibt zwei Abschiedsbriefe, einen an seine Verlobte, einen an seine Schwestern. Gegen 22:30 Uhr fährt er mit der Straßenbahn zur Wohnung seiner Schwester. Nach seiner Darstellung sei er unterwegs ausgestiegen, habe nachgedacht. Nun habe er sie doch nicht mehr töten wollen – und sei nur noch mal zu seiner Schwester gegangen, um mit ihr ein klärendes Gespräch zu führen.

"Vollstrecker eines von ihm gefällten Todesurteils"?

Erst als es zum Streit gekommen sei und seine Schwester ihm ins Gesicht geschlagen habe, da habe er zugestochen. "Äußerst abwegig", findet das die Staatsanwältin. Ebenso wie die Behauptung, er sei alkoholisiert und von Kokain und Cannabis benebelt gewesen. Dafür gebe es keine Anhaltspunkte.

Wahrscheinlicher sei es, dass der Angeklagte eine Art "Drehbuch" ausführte. Die Staatsanwältin sagt in ihrem Plädoyer: "Er war der Vollstrecker eines von ihm gefällten Todesurteils." Seine Schwester Ilham A. habe sterben müssen, weil ihr Leben mit seinem Ehrbegriff nicht zusammengepasst habe. Die Staatsanwaltschaft sieht deshalb das Mordmerkmal des niedrigen Beweggrundes als gegeben an – und fordert eine lebenslange Freiheitsstrafe.

Tragisches Familienschicksal

Der Angeklagte wird 1999 in Jemen geboren als somalischer Staatsbürger. Somalia gilt da schon als typisches Beispiel eines sogenannten Failed State, eines gescheiterten Staats. Seit den späten 1980er-Jahren tobt in dem ostafrikanischen Land ein unübersichtlicher Bürgerkrieg. Warlords, Clans und Milizen bekämpfen sich. Kriminelle Banden nutzen das Machtvakuum für ihre Zwecke.

Die Schule bricht der Angeklagte früh ab. Schon mit 13 Jahren hat er arbeiten müssen, um die Miete der Familie zu bezahlen. Für Freizeit und Hobbys, für eine normale Jugend sei keine Zeit gewesen, sagt die psychiatrische Sachverständige. "Er ist unter seinen Möglichkeiten geblieben." In Deutschland lebt der Angeklagte zunächst in einer Unterkunft in Verden, später zieht er nach Bremen.

Vater verlässt Familie früh

Früh verlässt der Vater die Familie, beginnt ein neues Leben in Österreich. Einige Zeit später stirbt die Mutter. Für den Angeklagten ist das ein Schock. Er glaubt, er allein sei nun für die Familie und seine Schwestern verantwortlich.

Dabei konnte Ilham A., die jüngste Schwester, gut für sich sorgen. Sie macht eine Ausbildung. Sie reist, geht frühstücken, kleidet sich – im Rahmen der religiösen Vorschriften – modisch. Und manchmal trifft sie sich mit Männern. Sie führt ein Leben, wie es für Millionen junge Frauen in Deutschland selbstverständlich ist. Weil ihr Bruder das nicht akzeptierte, musste sie sterben. An diesem Mittwoch wird das Bremer Landgericht sein Urteil verkünden.

Bruder ersticht Schwester: "Mein Kopf war komplett aus"

Bild: Radio Bremen

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Autor

  • Steffen Hudemann
    Steffen Hudemann Autor

Quelle: buten un binnen.

Dieses Thema im Programm: Bremen Eins, Nachrichten, 5. Juni 2024, 6:30 Uhr