Wer tötete Marco W.? Bremer Mordprozess könnte spektakulär enden
Die Anklage beruht auf Aussagen dreier Männer, die seit Februar vor Gericht stehen. Die Anwälte erheben schwere Vorwürfe: Behörden hätten "getäuscht, getrickst und gelogen".
Nach mehr als 30 Verhandlungstagen hat sich eine gewisse Routine eingestellt im Schwurgerichtssaal des Bremer Landgerichts. Als erster kommt meist Florian G. in den Saal. Regungslos sitzt er da, wartet darauf, dass es losgeht. Dann folgt Patrick E. Auch er kommt von zuhause. Die Angeklagten wurden schon vor Monaten aus der Untersuchungshaft entlassen. Einzig Mirco P., der dritte Angeklagte, wird in Handschellen in den Saal geführt. Seitdem er dem Prozess zwischenzeitlich unentschuldigt ferngeblieben ist, sitzt er wieder im Gefängnis.
Ackergrabungen bei Posthausen erwecken Aufmerksamkeit
Die Staatsanwaltschaft wirft den drei Männern gemeinschaftlichen Mord an Marco W. vor, begangen im April 2020. Zuvor sollen sie ihn geschlagen haben, um an den PIN seiner EC-Karte zu kommen. Hintergrund soll ein Streit um Renovierungskosten gewesen sein. Marco W. verwaltete die Wohnung in der Rheinstraße in der Bremer Neustadt, in der Florian G. und Patrick E. wohnten. Teile seiner Leiche wurden anderthalb Jahre später in einem Waldstück nahe der A1 gefunden. Arme, Beine und Kopf fehlen bis heute. Durch die spektakuläre Suche auf einem Acker bei Posthausen wurde die Öffentlichkeit auf den Fall aufmerksam. Doch auch nach zehn Monaten Verhandlung gibt es große Zweifel daran, ob dieser Mordprozess am Ende mit einer Verurteilung enden wird.
Zuschauer- und Presseplätze im Gerichtssaal sind an den meisten Verhandlungstagen nur noch spärlich besetzt. Lisa-Marie Michalke aber hat bisher keinen Tag verpasst. Die Halbschwester von Marco W. wohnt in der Nähe von Hameln. Sie nimmt jedes Mal gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten die zwei Autostunden nach Bremen auf sich. Sie mache das, um ihrem Bruder eine Stimme zu geben, sagt sie. "Ich glaube schon, dass alle drei Angeklagten daran beteiligt sind", sagt sie.
Wer letztendlich welchen Teil dazu beigetragen hat, spielt nicht unbedingt für mich eine große Rolle, weil alle drei davon wussten.
Lisa-Marie Michalke, Halbschwester von Marco W.
Anklage basiert auf Aussagen der Beschuldigten
Für die Verteidiger stellt sich das ganz anders da. Bisher habe der Prozess nur wenige Indizien zutage gefördert, vor allem seien das Zeugen, die etwas vom Hörensagen mitbekommen haben wollen. "Das reicht nicht aus, um darauf eine Verurteilung wegen Mordes zu stützen", sagt Simon Welzel, einer der beiden Anwälte von Florian G. Umso wichtiger dürften in diesem Prozess die Angaben werden, die die Angeklagten bei der Polizei gemacht haben. Denn dort sollen sie sich gegenseitig belastet haben. Doch eben diese Aussagen sind aus Sicht der Verteidiger nicht verwertbar. Denn Polizei und Staatsanwaltschaft hätten in diesem Fall "getrickst, getäuscht und gelogen". Davon ist Welzels Kollege Temba Hoch überzeugt.
Der Fall ist komplex. Denn bis die Ermittler überhaupt von einem Tötungsdelikt ausgehen, dauert es. Im April 2020 wird Marco W. laut Anklage getötet. Erst ein halbes Jahr später stellt seine Halbschwester Lisa-Marie Michalke eine Vermisstenanzeige bei der Bremer Polizei. Sie hat ihren Bruder über Monate nicht erreichen können, aber immer wieder Hinweise bekommen. Ihr Bruder habe sich in Hamburg ein neues Leben aufgebaut, heißt es darin. Auch von Saarbrücken und Mallorca ist die Rede. Verschickt wurden diese Hinweise unter anderem von Florian G., einem der heutigen Angeklagten.
Auch die Ermittler der Bremer Polizei gehen tatsächlich zunächst von einem Vermisstenfall aus. Doch schnell geraten die polizeibekannten Mieter Florian G. und Patrick E. in den Fokus, ebenso Mirco P., ein Bekannter der beiden. Er macht sich verdächtig, indem er das Auto des Toten, der damals noch als Vermisster gilt, an einen Gebrauchtwagenhändler verkauft.
Verteidiger sehen rechtsstaatliche Grundsätze verletzt
Offiziell gelten die Männer über Monate als Zeugen in einem Vermisstenfall, polizeiintern sei das schon ab einem frühen Zeitpunkt ganz anders gewesen, glauben die Anwälte der Angeklagten. "Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass faktisch ein Verfahren geführt worden ist, so wie man es gemeinhin gegen Beschuldigte führt", sagt Verteidiger Temba Hoch. Mit Leichenspürhunden sei durch Wohnungen der Männer gegangen worden, man habe nach Blutspuren gesucht und die Telefone abgehört.
Da wurde die volle Klaviatur dessen bespielt, was der Polizei an Ermittlungsmethoden zur Verfügung steht.
Temba Hoch, Anwalt von Florian G.
Im Oktober 2021 schließlich werden die Wohnungen der drei Männer mit Spezialkräften durchsucht. Formal gelten die Männer weiterhin als Zeugen. Auf die Idee, die Männer als Beschuldigte einzustufen, kommt auch zu diesem Zeitpunkt offenbar niemand, auch nicht die zuständige Staatsanwältin. Wie oft es denn so vorkomme, dass die Polizei Wohnungen von Zeugen mit dem SEK durchsuchen lasse, will einer der Verteidiger im Prozess vom ermittelnden Beamten wissen. Es ist eher eine rhetorische Frage. Die Antwort: zuvor noch nie.
Dass die Polizei die Männer auch bei der anschließenden Vernehmung im Präsidium immer noch nicht als Beschuldigte, sondern weiterhin als Zeugen führt, könnte sich jetzt als schweres Versäumnis erweisen. Denn die Verdächtigen werden nicht darüber belehrt, dass sie das Recht haben zu schweigen. Auch einen Anwalt zieht zunächst keiner hinzu. Aus Sicht der Anwälte handelt es sich um eine bewusste Täuschung durch die Ermittler. Die Verdächtigen sollten "weich gekocht" werden, so formuliert es Verteidiger Hoch. Die Anwälte fordern nun, dass die Aussagen der Angeklagten nicht verwertet und auch gar nicht in den Prozess eingeführt werden dürfen.
Die Frage eines rechtsstaatlichen Verfahrens darf nicht von gefühlter Wahrnehmung von Schuld abhängig gemacht werden.
Temba Hoch, Anwalt von Florian G.
Wenn das Gericht den Anwälten folgt, dann dürfte die Anklage in sich zusammenfallen. In den kommenden Wochen muss das Gericht entscheiden, wie es mit den Vernehmungen umgeht. Bislang hat es diese Frage ausgespart.
Richter müssen folgenschwere Entscheidung treffen
Schon jetzt ist abzusehen, dass sich die Hauptverhandlung noch weit bis ins Jahr 2024 hineinziehen wird. Polizei und Staatsanwaltschaft wollen sich zu möglichen Versäumnissen mit Hinweis auf das laufende Verfahren gegenüber buten un binnen nicht äußern. Für das Gericht gebe es jedenfalls "keinen Ausweg für Helden", glaubt Verteidiger Temba Hoch. "Es gibt keine schlanke Lösung, keine Lösung, die es dem Gericht ersparen würde, sich verbindlich zu den schwierigen und auch schmerzhaften Fragen zu verhalten."
Und je nachdem, wie das Gericht diese Fragen beantwortet, muss es am Ende eine Entscheidung zwischen zwei Extremen treffen: Mordurteil oder Freispruch.
Quelle: buten un binnen.
Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 6. Dezember 2023, 19:30 Uhr