Fragen & Antworten
Wieso Lkw in Bremen trotz autonomer Bremsen Auffahrunfälle verschulden
Zum Glück "nur“ ein Schwerverletzter: Auf der A1 nahe Bremen ist ein Lkw in einen Stau gerauscht. Moderner Technik zum Trotz. Wieso kommt es immer wieder zu solchen Unfällen?
Kaum eine Woche vergeht, ohne dass die Polizei von schweren Auffahrunfällen in Bremen und umzu berichtet. Zuletzt, vor wenigen Tagen, war es ein Lkw, der auf der A1 bei Oyten in ein Stauende gerauscht war. Der 54-jährige Fahrer verletzte sich schwer dabei.
Auffahrunfälle haben oft dramatische Folgen, insbesondere dann, wenn Busse oder Lastkraftwagen daran beteiligt sind. Statistisch betrachtet sind die Schwergewichte zwar vergleichsweise selten an Unfällen beteiligt. Wenn es aber dazu kommt, werden häufig Menschen schwer verletzt oder gar getötet. So waren im Jahr 2020 nach Angaben des ADAC Güterkraffahrzeuge wie Lkw und Busse, Zug- und Sattelzugmaschinen in 60 Prozent aller Verkehrsunfälle mit Personenschaden die Hauptverursacher, obwohl sie nur rund 8 Prozent des gesamten Fahrzeugbestands ausmachten.
Der ADAC und der Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL) fordern daher bessere Notbremsassistenzsysteme für Lkw und Busse sowie schärfere Gesetze. Zu den Hintergründen:
Viele Verletzte durch relativ wenige Güterkraftfahrzeuge
Weshalb sind Auffahrunfälle mit Lkw so gefährlich, und wieso kommt es so häufig dazu?
Als wichtige Ursache für die Schwere der Auffahrunfälle mit Lkw nennt der ADAC die großen Massenunterschiede zwischen Lkw einerseits und Pkw andererseits. Ereigne sich der Unfall außerhalb von Ortschaften, komme oft eine große Geschwindigkeitsdifferenz zwischen den betroffenen Fahrzeugen hinzu – zumal, wenn der Lastkraftwagen in stehende Fahrzeuge eines Staus rausche. Das große Gewicht der Lkw bringe zudem einen langen Bremsweg mit sich, wodurch das Risiko einer Kollision ebenfalls steige.
Als wesentliche Gründe dafür, dass es zu Unfällen kommt, nennt der ADAC aber vor allem menschliche Fehler. "Der Mensch ist immer der größte Unsicherheitsfaktor", sagt Nils Linge, Sprecher des ADAC Weser-Ems. So sei der Fahrer, der einen Unfall verursache, oft schlicht unaufmerksam oder halte keinen ausreichenden, dem Bremsweg angemessenen Sicherheitsabstand zu anderen Fahrzeugen ein. Umso mehr ist der ADAC überzeugt davon, dass automatische Notbremsassitenzsysteme viele Auffahrunfälle vermeiden oder zumindest deutlich abmildern könnten.
Bremsassistenten gibt es bereits seit vielen Jahren. Wieso macht sich das in der Unfallstatistik bislang kaum bemerkbar?
Zwar sind Notbremsassistenten seit 2013 schrittweise für alle Fahrzeuge eingeführt worden, wie das Bundesverkehrsministerium mitteilt. Auch seien die Bremsassistenten für alle neuen Busse und Lkw seit 2018 in der gesamten europäischen Union vorgeschrieben. Allerdings nicht für ältere Fahrzeuge. Und davon führen noch viele auf den Straßen, sagt Nils Linge vom ADAC Weser-Ems.
Martin Bulheller, Sprecher des Bundesverbands Güterkraftverkehr
Logistik und Entsorgung (BGL), fügt hinzu, dass die Bremsassistenten in den Lkw unterschiedlich leistungsfähig seien. So hätten die Bremsassistenten der ersten Generation die Geschwindigkeit des Fahrzeugs lediglich um zehn Kilometer pro Stunde (km/h) abgesenkt, die der zweiten Generation um zwanzig km/h. Erst die neueste Generation der Bremsassistenten könne das Fahrzeug von 80 km/h auf 0 abbremsen. "Dafür müssen die Bedingungen aber optimal sein", so Bulheller. Die Fahrbahn müsse trocken, der Bremsweg gerade sein, auch dürfe kein Schmutz oder Schnee die Sicht des Bremsassistenten beeinträchtigen.
Es gibt allerdings noch einen weiteren Grund dafür, dass auch Fahrer, die über einen Bremsassistenten verfügen, Auffahrunfälle verursachen können: Sie sind, je nach Fahrzeugklasse, nicht dazu verpflichtet, den Assistenten tatsächlich einzuschalten oder zumindest nicht dazu verpflichtet, den Assistenten permanent eingeschaltet zu lassen.
Hauptverursacher von Unfällen mit Personenschaden
Warum schalten einige Fahrer ihre Notbremsassistenten nicht an, beziehungsweise weshalb schalten sie ihn während der Fahrt ab?
Meist gar nicht aus Absicht, sonder eher aus Unkenntnis der Systeme, sagt Linge: "Viele Fahrzeuge sind vollgestopft mit Elektronik. Ich muss erst Bücher wälzen, um zu verstehen: Wie kann ich was anschalten und was macht das mit meinem Fahrzeug?" Tatsächlich fordert auch der BGL "eine Vereinheitlichung der Bedienung von Assistenzssystemen", sagt Martin Bulheller. Denn zwischen den einzelnen Modellen unterschiedlicher Hersteller gebe es große Unterschiede, die viele Fahrerinnen und Fahrer verunsicherten. So komme es etwa vor, dass Fahrer den Assistenten aus Versehen abstellten, etwa weil sie – Gewohnheiten aus anderen Fahrzeugen folgend – an der falschen Stelle eines Blinkers zupften.
In anderen Fällen stelle sich der Bremsassistent gegen den Willen des Fahrers ab, weil er beispielsweise das eigenständige Bremsen des Fahrers oder ein Ausweichmanöver als Übersteuerung interpretiere. "Da sieht man dann auf den Unfallfotos, wie nur die rechte Hälfte des Lkw eingedrückt ist", beschreibt Bulheller den Ausgang derartiger Manöver: "Der Fahrer hat versucht, nach links auszuweichen, und der Automat hat den Bremsvorgang abgebrochen. Und dann ist das Fahrzeug mit großer Wucht mit seiner rechten Seite dem Vordermann hinten rauf gefahren."
Trotz solcher Unfälle sei es grundsätzlich durchaus sinnvoll, dass ein Fahrer den Assistenten abstellen kann, stellt Bulheller fest – schon von Gesetzes wegen. So müsse laut Wiener Straßenverkehrskonvention jeder, der ein Fahrzeug lenke, dieses Fahrzeug jederzeit selbst beherrschen können: "Egal, was Sie an Assistenzsystemen einbauen: Das Ding muss abschaltbar sein durch den Fahrer oder mindestens übersteuerbar", so Bulheller. Umso wichtiger sei, dass die Assistenten noch besser werden.
Welche Faktoren spielen bei Auffahrunfällen durch Lkw außerdem häufig eine Rolle?
Der Druck auf die Fahrer werde immer größer, sagt Nils Linge vom ADAC. Denn zum einen verdichte sich der Verkehr immer weiter, zum anderen nehme der Zeitdruck, unter dem die Fahrer stünden, ständig zu. Druck aber erschwere die Konzentration auf das Verkehrsgeschehen. Hinzu komme, dass es zu wenig Lkw-Stellplätze an den Autobahnen gebe. Daher wüssten die Fahrer oft nicht, wo sie schlafen sollten, was sie zusätzlich verunsichere und vom Verkehr ablenken könne. Martin Bulheller spricht von rund 40.000 solcher Lkw-Stellplätze, die bundesweit fehlten.
Gleichwohl spiele Übermüdung der Fahrer als Unfallursache nur sehr selten eine Rolle, betont er. Der größere Risikofaktor als Schlafmangel sei Monotonie hinterm Steuer sowie die daraus resultierende Versuchung, sich abzulenken, glaubt Bulheller: "Wenn sie bei Tempo 80 auf der Autobahn im Überholverbot unterwegs sind und stundenlang hinter demselben Vordermann herfahren, dann ist das monoton. Dann können sie auch gut ausgeschlafen sein – und werden trotzdem irgendwann müde."
Die Gleichung "Niedrigeres Tempo gleich weniger Unfälle" geht nicht in jedem Fall auf."
BGL-Sprecher Martin Bulheller
Was für Forderungen leiten der ADAC und der BGL aus den Auffahrunfällen mit Bussen und Lkw der letzten Jahre ab?
Sowohl der BGL als auch der ADAC fordern, dass leistungsfähigere Bremsassistenten für Lkw vorgeschrieben werden, als dies derzeit der Fall ist. So fordert die Gesetzgebung derzeit eine Geschwindigkeitsreduktion um mindestens 20 km/h vor der Kollision mit stehenden Zielen. Aus Sicht des ADAC sollte der Gesetzgeber verlangen, dass der Bremsassistent eines Lkw das Fahrzeug bei einer Geschwindigkeit von bis zu 70 km/h vollständig zum Stehen bringt, bevor es zur Kollision kommt.
Der ADAC fordert unter anderem, dass Lkw- und Busunternehmen ihre Fahrzeuge mit allen verfügbaren Sicherheitssystemen ausstatten lassen, um die Fahrer und andere Verkehrsteilnehmer bestmöglich zu schützen. Auch sollten sie ihre Fahrer sorgfältig in allen Fahrzeugen und Assistenzsystemen schulen und sie insbesondere mit der Wirkungsweise der Notbremssysteme vertraut machen.
Von den Herstellern fordert der ADAC, dass diese die Entwicklung von Fahrerassistenzsystemen weiter vorantreiben. Zu den wichtigsten dieser Systeme zählen laut ADAC neben Notbremssystemen unter anderem Assistenzen zur Straßenkantenerkennung und zur Spurhaltung, Rechtsabbiegeassistenten, die Fußgängererkennung mit Notbremsfunktion sowie die Erkennung von Zweirädern.
Dieses Thema im Programm: Bremen Eins, Rundschau am Morgen, 7. Februar 2023, 7 Uhr