Interview
Erdogan vor Wahl-Schlappe? Bremer Türkei-Experte hält es für möglich
Bleibt Präsident Erdogan an der Macht? Darüber dürfen türkischstämmige Bremer mitentscheiden. Es wird eine enge Wahl. Ein Bremer Türkei-Experte sagt, was auf dem Spiel steht.
Drei Tage haben Bremerinnen und Bremer, die in der Türkei wahlberechtigt sind, Zeit, um in Halle 4 der Messe Bremen ihre Stimme abzugeben. Zu den Bremer Wahlbeobachtern der Türkei-Wahl zählt auch der Politikwissenschaftler und Unternehmer Cetin Gürer. Aus seiner Sicht birgt diese Wahl eine besondere Chance für die Türkei.
Herr Gürer, Umfragen sehen den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und seine AKP vor der Wahl am 14. Mai in der Türkei Kopf an Kopf mit seinem sozialdemokratischen Herausforderer Kemal Kilicdaroglu. Für wie realistisch halten Sie es, dass die Wahlberechtigten Erdogan tatsächlich abwählen?
Das halte ich für sehr realistisch. Denn nach dem großen Erdbeben in der Türkei haben viele Wählerinnen und Wähler gesehen, dass der Staat nicht die erforderlichen Leistungen erbringen konnte. Die Widersprüche zur öffentlichen Darstellung waren offensichtlich. Gleichzeitig haben sich wichtige Oppositionelle zu einem großen Bündnis zusammengetan. Auch die pro-kurdische Partei hat darauf verzichtet, einen eigenen Kandidaten aufzustellen und stützt stattdessen das große Bündnis um Kemal Kilicdaroglu. Auch deshalb könnte Erdogan diesmal abgewählt werden.
Darüber, ob Erdogan abgewählt oder wiedergewählt wird, können etwa 1,5 Millionen Wähler in Deutschland mitentscheiden. Auch die türkischstämmigen Wahlberechtigten in Bremen sind dazu aufgerufen, ihre Stimme abzugeben. Mit was für einer Wahlbeteiligung rechnen Sie, und wie groß wird folglich der Einfluss der türkischstämmigen Wahlberechtigten in Deutschland auf das Endergebnis sein?
2018 war die Wahlbeteiligung bei der Wahl in der Türkei unter den türkischstämmigen Wahlberechtigten im Ausland gering. In Deutschland lag sie bei etwa 43 Prozent. Das entsprach ungefähr 600.000 Wahlberechtigten. Ich glaube aber, dass die Wahlbeteiligung bei uns diesmal etwas höher liegen und der Einfluss der türkischstämmigen Wahlberechtigten aus Deutschland daher diesmal entsprechend größer sein wird.
Warum glauben Sie, dass die Beteiligung an der Wahl in der Türkei diesmal in Deutschland größer sein wird?
Erstens, weil es fast 300.000 neue registrierte Wahlberechtigte für die Türkei-Wahl in Deutschland gibt. Zweitens, weil die Motivation unter den Wählerinnen und Wählern dieses Mal besonders groß ist. Viele halten diese Wahl für eine entscheidende Wahl für die Demokratie und für die gesamte Entwicklung in der Türkei.
Bei den letzten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Türkei haben gut 60 Prozent der türkischstämmigen Wahlberechtigten für Erdogan gestimmt. Wieso ist er bei ihnen so beliebt?
Ich glaube, dass man gar nicht so pauschal sagen kann, dass Erdogan bei den türkischstämmigen Wahlberechtigten in Deutschland durchweg beliebt ist. Ich glaube eher, das Ergebnis hängt mit der geringen Wahlbeteiligung zusammen. Viele, die Erdogan nicht wählen würden, gehen gar nicht zur Wahl. Ich bin mir sicher: Wenn alle Wahlberechtigten in Deutschland wählen würden, würde Erdogan hier zumindest abgewählt.
Ein anderer Punkt ist: Das deutsche Establishment geht mit Erdogan-Wählern nicht kritisch um, sondern es fördert und unterstützt diese Community. Dadurch verstärkt sich die Illusion bei Erdogan-Wählerinnen und -Wählern, dass alles durch Erdogan möglich geworden ist – dass sie zum Beispiel von den deutschen Institutionen und Parteien und so weiter wie wichtige Kooperationspartner behandelt werden. Diese Privilegien wollen sie nicht verlieren.
Hinzu kommt: Die oppositionellen Parteien der Türkei sind in Deutschland nicht gut organisiert. Sie erreichen viele Wahlberechtigte nicht. Ihnen fehlt die Expertise dazu.
Sie kritisieren die Rolle des deutschen Establishments im Umgang mit Erdogan-Anhängern in der Bundesrepublik. Was müsste die Machtelite in Deutschland Ihrer Meinung nach anders machen?
Das deutsche Establishment muss die AKP-Anhänger nicht als reine Glaubensgemeinschaft wahrnehmen, sondern als eine Gemeinschaft, die politisch-islamistische Ziele hat. Ein Perspektiv-Wechsel ist nötig.
Zweitens muss das deutsche Establishment den Islam in Deutschland nicht in der national-staatlichen Form anerkennen, sondern als eine Religion – unabhängig von den Nationalstaaten und einzelnen Muslimen. Dementsprechend müssen zum Beispiel Moschee-Projekte für die türkische, iranische, ägyptische Community nicht gefördert und unterstützt werden. Es muss einen Islam geben, der nicht von den Nationalstaaten gesteuert wird.
Sie haben bereits das große Erdbeben in der Türkei angesprochen. Doch auch die schlechte wirtschaftliche Lage des Landes und die hohe Inflation haben Erdogan Umfragen zufolge zurückgeworfen. Glauben Sie, dass sein Ansehen auch bei seinen Anhängern in Deutschland gelitten hat?
Nein, das glaube ich nicht. Wenn man sich das Wählerprofil der Erdogan-Wähler anguckt, dann stellt man fest: Es handelt sich um keine rational interessenorientierten Wählerinnen und Wähler. Sie handeln und wählen viel mehr aus ideologischen Beweggründen heraus. Diese Ideologie ist der politische Islam, der auch in Deutschland menschenverachtende, antisemitische sowie rassistische Elemente aufweist.
Angenommen: Erdogan verliert die Wahl. Was hieße das für die internationale Gemeinschaft?
Die Türkei muss reformiert werden, um wieder eine demokratische Entwicklung zu ermöglichen. Wenn das oppositionelle Bündnis die Wahl gewinnen wird, wird es sich dafür einsetzen und sich Richtung Europa und Europäischer Union orientieren. Die internationale Gemeinschaft müsste dann nicht befürchten, dass die Türkei instabil wird oder das dort chaotische Verhältnisse einkehren würden. Das halte ich für ausgeschlossen. Die internationale Gemeinschaft würde von einer demokratischen Türkei profitieren.
Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 29. April 2023, 19:30 Uhr