Dieses Bremer Unternehmen zeigt wie Müll zu Geld wird
Vor 100 Jahren gründete Karl Nehlsen sein Fuhrunternehmen: ein Ein-Mann-Betrieb mit Pferdekutsche. Heute gehört die Nehlsen AG zu den größten Entsorgungsunternehmen Deutschlands. Die Geschichte eines Aufstiegs.
Im größten Unrat lässt sich noch eine Verwendung finden. Selbst im Sperrmüll – man muss ihn nur auseinander fleddern. Bei Nehlsen gehört das zum Tagesgeschäft. Alpaslan Parman steht auf einem riesigen Berg geschreddertem Holz. "Die wertvollen Stoffe werden aussortiert. Also Holz, Kunststoffe, Metalle gehen separat", sagt der technische Leiter der Karl Nehlsen GmbH. "Alles, was nicht weiterverarbeitet werden kann, zum Beispiel Matratzen, wird zerkleinert und geht in die Müllverbrennungsanlage."
Einen Haufen weiter häckselt ein riesiger Apparat Europaletten, alte Türen und andere Holzbretter zu kleinen Schnitzen. Dieses Material wird wiederverwertet. Beispielweise zu Speerholzplatten oder Einstreu und Sägespänen. Der Müll ist bare Münze wert.
Für die einen Müll, für die anderen Rohstoff
In der akribischen Sortiererei steckt das Kapital der Firma Nehlsen. Was für Verbraucher schlicht Abfall ist, ist für den Firmenchef Peter Hoffmeyer "natürlich Rohstoff". Er ist heute Aufsichtsratsvorsitzender der Nehlsen AG. Der 64-Jährige hat das Familienunternehmen 25 Jahre lang geleitet – in der dritten Generation.
Und er hat den regionalen Entsorger zu einer Aktiengesellschaft ausgebaut. Mit mehr als 3.000 Mitarbeitern in der ganzen Welt. Sein Unternehmen zählt heute zu den fünf größten Entsorgern Deutschlands.
Vom Pferdewagen zum Entsorgungsriesen
Nehlsen holt längst nicht mehr nur Müll ab, das Unternehmen handelt sortiertes, recycelbares Material, so genannte Sekundär-Rohstoffe. Das sind häufig Kunststoffe, Papier und Glas. "Der Rohstoffhandel ist ein weltweites Business", weiß Hoffmeyer. "Wir tingeln damit durch die Welt und gucken, wo, wer, wann, was und in welcher Qualität braucht."
Heute liegt der Firmensitz hinter dem Bremer Industriehafen gleich neben einer gigantischen Sortieranlage. Er ist nur einer von 70 Standorten. Vor 100 Jahren hingegen fing alles ganz klein in Grohn an.
Als der junge Karl Nehlsen am 10.Dezember 1923 sein Fuhrunternehmen gründet, besitzt er lediglich zwei Pferde und einen Wagen.
"Goldeimer" auf dem Pferdewagen
Fünf Jahre später übernimmt er einen städtischen Auftrag: die Müllabfuhr in Vegesack. Dort holt er Fäkalien-Eimer ab. Im Volksmund heißen sie spöttisch "Goldeimer". Ein delikater Job, aber sein Unternehmen wächst. In den 50er Jahren übernimmt Nehlsen die Müllabfuhr weiterer Gemeinden. Mittlerweile hat er 30 Angestellte und motorisierte Müllwagen, mit denen er Hausmüll einsammelt.
Es ist die Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs – die Deutschen kaufen mehr, als sie verbrauchen. Und was nicht mehr gefällt, landet im Abfall. Es gab damals noch keine Abfallgesetze, Tausende Deponien entstehen landauf, landab. Heute sind es Stand 2021 weniger als 1.000.
Vom Abfall zum Recycling
"Das wurde zum Umweltproblem", sagt die Wissenschaftlerin Silke Eckardt. Sie ist Professorin für Kreislaufwirtschaft und zukunftsfähige Energie an der Hochschule Bremen. "So wurde 1972 das erste Abfallbeseitigungsgesetz geschaffen. Und das wandelte sich im Laufe der Jahre so, dass es nicht nur um die Beseitigung ging, sondern darum, Abfälle zu verwerten."
Der Aufstieg des Müllentsorgers Nehlsen hat wohl auch damit zu tun, dass sich das Unternehmen immer wieder angepasst hat: sowohl an Gesetze als auch an Märkte. Nehlsen ist heute Teil einer Kreislaufwirtschaft: abholen, sortieren, wiederverwenden, recyceln.
Von der Müllabfuhr zum Recycling-Pionier
Die Bundesregierung gibt mittlerweile für nahezu alle Abfälle Recyclingquoten vor. Für Kunststoff liegt sie bei 63 Prozent, für Papier und Pappe bei 90 Prozent. Um das hinzubekommen, ordnen die Mitarbeiter auf den Wertstoffhöfen bei Nehlsen tagein tagaus Müll. Und zwar akribisch: Pappe zu Pappe, Plastik zu Plastik. Feinsäuberlich nach Qualität und Farbe gebündelt.
Die schiere Menge dessen, was Menschen hierzulande in den Müll werfen, ist in den vergangenen 40 Jahren gewaltig angestiegen. 1,2 Kilogramm Müll schmeißt jeder und jede Deutsche täglich in die Tonne. Rund 438 Kilogramm Müll häuft ein Mensch pro Jahr auf diese Weise an (Stand 2022). Ein Großteil davon sind Verpackungen. Auch die landen seit Anfang der 90er bei Nehlsen auf dem Hof.
Am Anfang lohnt sich das Recycling nicht
Mit einer Verpackungs-Verordnung wollte die Politik das Problem damals in den Griff bekommen. Und Unternehmen an der Entsorgung von Verpackungen beteiligen. Heraus kam das Duale System. Die Idee: Hersteller von Verpackungen erwerben eine Lizenz für den Grünen Punkt. Von diesem Geld sollen Entsorgung und Recycling bezahlt werden.
Nehlsen steigt damals zwar ein ins Geschäft und holt den Gelben Sack ab, bleibt aber zunächst auf den sortierten Plastikballen sitzen. Das System rechnete sich für die Entsorger nicht. Ein Grund: Zu unterschiedlich ist die Zusammensetzung der einzelnen Kunststoffe.
Die Zukunft des Recyclings
An der Vielzahl unterschiedlicher Kunststoffe im Gelben Sack hat sich bis heute nichts geändert. Die Kunststoffe aus dem Gelben Sack sortenrein zu dividieren und sie dann wieder zu verwerten, beschäftigt Nehlsen immer noch. Die große Frage für die kommenden Jahre wird laut Vorstandsvorsitzenden Oliver Groß sein:
Wie kriegen wir Recycling Rohstoffe verbindlich in Produkte?
Oliver Groß, Vorstandsvorsitzende
Seit vier Jahren leitet Groß das Unternehmen. Seitdem schaut er immer wieder auf die gleichen Zahlen: Die Recyclingquoten, die er erfüllen muss. Und die Preise, die er auf dem Weltmarkt für seine recycelbaren Kunststoffe, die Rezyklate, erzielt. Und genau da klafft eine Lücke.
Technische Lösungen, wie aus alten PET-Flaschen zum Beispiel neue werden können, gibt es. Und auch für die anderen Kunststoffe im Plastik gibt es Verwendungen – daran haben Silke Eckardt und ihre Kollegen an der Hochschule Bremen geforscht. Nur: Sie rechnen sich nicht. Noch ist es schlicht billiger, neues Plastik herzustellen. Doch Recycling funktioniert an anderer Stelle schon – zum Beispiel Altmetall kann gut wiederverwertet werden.
Wissenschaft und Entsorger wollen Recycling-Pflicht
Die Hersteller von Verpackungen müssten ebenfalls verpflichtet werden, Plastik wiederzuverwerten. Und zwar über Quoten, die den Einsatz von recycelten Rohstoffen regeln. Darin sind sich die Wissenschaftlerin Silke Eckardt und Oliver Groß von Nehlsen einig.
Nach 100 Jahren im Müll-Geschäft muss Nehlsen sich immer wieder anpassen: an neue Stoffe, Gesetze, Technologien. Peter Hoffmeyer überlässt das jetzt seinen Söhnen Paul und Johannes. Beide arbeiten bereits im Unternehmen und sollen es in vierter Generation führen. Ganz Loslassen könne er das Thema wohl dennoch nie. "I’m just a waste man", sagt Hoffmeyer – und lächelt verschmitzt.
Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 16. Januar 2023, 19:30 Uhr