Hintergrund zum Syrien-Rückkehrer Harry S.
Eine Zelle im Hochsicherheitstrakt. Die Tür ist zu für 23 Stunden am Tag. Eine Stunde Hofgang. Alleine. Das ist der Alltag von Harry S. seit Sommer 2015. Ihm wird "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland" vorgeworfen. Ein Team von Radio Bremen hat den Syrien-Rückkehrer für ein Interview im Gefängnis getroffen.
Was ist passiert?
Im April 2015 reist der Bremer Harry S. nach Syrien, um sich mit einem Freund zusammen der Terrororganisation "Islamischer Staat" anzuschließen. Dort wird er in einem militärischen Trainingscamp ausgebildet, lernt dort Schießen und wirkt in einem Propaganda-Video mit. Nach wenigen Monaten flieht er. Im Juli 2015 wird er am Bremer Flughafen verhaftet. Seit seiner Rückkehr kooperiert er mit den Behörden. Der 27-Jährige äußert sich ausführlich zu seinen Erlebnissen beim IS. Er sagt, er sei entsetzt darüber, was er dort gesehen und erlebt habe.
Harry S.' Leben in Bremen
Dabei hätte alles ganz anders laufen können bei dem 27-jährigen Bremer, dessen Mutter aus Ghana stammt. Trotz schwieriger Familienverhältnisse ist Harry S. auf dem besten Wege in die Integration. Nach seiner Zeit im katholischen Kindergarten ist er ein guter Schüler in der katholischen Schule St. Johann in der Bremer Innenstadt. Ein guter Sportler ist er obendrein, hochbegabt im Fußballtor. Und trotzdem gerät der junge Mann, der vor allem in Tenever aufwächst, an die falschen Leute und mit ihnen auf die schiefe Bahn. Nicht als Macher, eher als Mitmacher. Als einer, der sich überreden lässt.
Erst kommen kleinere Delikte, dann eine größere Straftat. Harry S. ist beteiligt an einem Überfall auf einen Supermarkt in Bremen-Huckelriede. Er wird zu einer Bewährungsstrafe verurteilt – und verlässt Bremen. Ein Neuanfang in London, wo seine Schwester und seine Mutter inzwischen wohnen. Er beginnt eine Ausbildung, konvertiert zum Entsetzen der Mutter zum Islam, sucht sogar nach einem Fußballinternat in England. Und doch lässt er sich von der Bremer Geschichte einholen. Als Bewährungsauflage für den Supermarkt-Überfall soll Harry S. monatlich eine kleine Summe zahlen – er tut es nicht. Als das Gericht mit Haft droht, entscheidet er sich gegen den Neuanfang und für das Gefängnis.
2012 radikalisiert er sich
Um das Jahr 2012 herum beginnt Harry S., sich immer mehr zu radikalisieren. Ganz nach dem alten Muster: Harry S. ist der Mitmacher. Und er bleibt es auch. Unter seinen Freunden schließen sich welche der salafistischen Szene in Bremen an. Sie beten und treffen sich rund um den mittlerweile verbotenen "Kultur- und Familienverein" (KuF) in Gröpelingen. In der Bremer Justizvollzugsanstalt bekommt auch Harry S. Kontakt zum KuF. Er lernt den ebenfalls einsitzenden René Marc S., einen der KuF-Gründer, kennen. Dieser sitzt eine Haftstrafe ab, weil er Propaganda für Al Qaida gemacht hatte und zweimal in ein Terror-Camp ausreisen wollte. "Charismatisch" sei der, sagt Harry S., "als ich ins Gefängnis kam, wusste ich ja nicht, was mich erwartet. Ich konnte ja nicht ahnen, dass das, was er mir beibringen will, radikal ist. Er hat diese Ideologie als Islam verpackt. Er sagt: "Das ist Islam. Das, was Du bis jetzt praktiziert hast, ist kein Islam."
Nach seiner Haftentlassung besucht auch Harry S. regelmäßig den KuF, fährt mit Mitgliedern der Vereinsführung nach Medina. Der 27-Jährige sieht zwar ganz und gar nicht wie der typische Salafist aus, trinkt auch gerne mal Alkohol, was eigentlich gegen die strengen Regeln ist. Aber: Er macht mit.
Bremen spricht ein Ausreiseverbot aus
Eigentlich, sagt Harry S., habe er sich dann wieder vom KuF gelöst. Er habe geheiratet und versucht, ein ganz normales Leben zu leben. Im April 2014 allerdings will er nach Syrien reisen, sich dem sogenannten "Islamischen Staat" anschließen. Er wolle in Flüchtlingscamps helfen und nicht kämpfen, sagt er. Das sehen die Behörden anders. In der Türkei wird er von der Polizei geschnappt und zurückgeschickt. Das Bremer Stadtamt entzieht ihm den Pass und spricht ein Ausreiseverbot aus, er soll sich regelmäßig melden. Immer wieder wird der 27-Jährige kontrolliert. Ihn setzt das unter enormen Druck, erzählt er. Man habe ihn zum Terroristen abgestempelt – während gleichzeitig sein Freund Adnan S. ihn drängt, mit ihm gemeinsam nach Syrien auszureisen.
Am liebsten will Harry S. wieder nach London zur Familie. Das geht aber nicht ohne Pass. Im März 2015 will er seinen Pass wiederhaben, bei einer Verhandlung sieht es so aus, dass er weiter ohne Pass auskommen muss. Dann geht alles ganz schnell: Jetzt zündet die Überredungskunst von seinem Freund Adnan S. Der Montenegriner aus Bremen will sich schon lange dem sogenannten IS anschließen, schon lange versorgt er Harry S. mit der entsprechenden Propaganda.
Reise nach Syrien

Harry S. "leiht" sich einen Pass. Anfang April 2015 reisen er und Adnan S. via Österreich, Bulgarien und die Türkei nach Syrien. Die Frauen der beiden sollen nachkommen, wenn sie sich mit Online-Betrug Geld verschafft haben. Daraus wird nichts. Eine von ihnen bekommt kalte Füße und geht zur Polizei.
Unterdessen landet Harry S. in Ausbildungscamps für Spezialeinheiten, durchläuft harten militärischen Drill – allerdings, so sagt er, ohne einen Schuss abzugeben. Er kommt rum, trifft allerlei IS-Prominenz, darunter auch alte Bremer Bekannte. Er identifiziert, zu seinem Erstaunen, auch eine größere Gruppe Bremer Tschetschenen. Irgendwann wird er angesprochen: Ob er bereit wäre, in Deutschland einen Anschlag zu verüben. Deutsche würden gebraucht, Franzosen gebe es genug. Er lehnt ab. Er will ohnehin aus den Spezialeinheiten raus, er wolle nicht kämpfen.
Illusion vom IS und vom Kalifat zerfällt
Irgendwie hatte er sich den IS doch anders vorgestellt. Der Traum vom guten Leben im Kalifat zerfällt. "Alles Schwachsinn, alles Lüge", sagt der 27-Jährige. Insbesondere ein Video-Dreh schockiert ihn. Deutsche und Österreicher werden in der IS-Hochburg Raqqa zusammengeholt und auf Pick-Ups gesetzt. Harry S. und Adnan S. sind dabei. Vorneweg: Mohamed Mahmoud, Hassprediger aus Österreich, schon lange einer der Propagandastars der Salafistenszene und einer der Köpfe der deutschsprachigen Gotteskrieger im IS.
Zunächst holen sie sieben Gefangene ab. Dann fahren sie nach Palmyra und drehen ein Propaganda-Video, in dem Merkel als "dreckige Hündin" beschimpft wird. Am Ende werden mehrere Gefangene vor laufenden Kameras hingerichtet. Harry S. ist als Statist in diesem Video zu sehen. Mit einer IS-Flagge läuft er durch das Bild – bewaffnet.
Rückkehr und Festnahme
Harry S. hat genug und entscheidet sich zur Flucht. Auf dem Weg in die Türkei entgeht er knapp dem Tod. Er kriecht in Izmir bei deutschen Freunden unter und fliegt dann nach Bremen – wohlwissend, dass ihn die Polizei am Flughafen abholen wird. So kommt es auch. Am Bremer Flughafen wird der Syrien-Rückkehrer gleich verhaftet. Harry S. redet. Er sagt umfassend aus und will das auch während seines Prozesses tun. Er will mithelfen, Jugendliche vom Schritt in die Radikalität abzuhalten, sagt er – obwohl er für die Anhänger des sogenannten IS ein Verräter ist. Was er in Syrien gesehen und miterlebt hat, habe ihn sehr entsetzt.
Auszüge aus dem Interview mit Harry S.
Bevor der Prozess vor dem Hanseatischen Oberlandesgericht in Hamburg gegen ihn begann, haben die Radio-Bremen-Reporter Dirk Blumenthal und Jochen Grabler Harry S. im Gefängnis besucht.
Ich habe Angst gehabt in Syrien. Hier in Deutschland habe ich keine Angst. Ich bin auf meiner Flucht mehrmals gestorben. Seelisch. Psychisch. Es gibt nichts Schlimmeres.
Harry S.

Warum Harry S. öffentlich sprechen will:
Unschuldige Menschen kommen da um ihr Leben. Diese Ideologie und dieser Traum vom Kalifat und vom perfekten Leben stimmt nicht. Das ist einfach totaler Schwachsinn. Totale Lüge. Nichts in dieser Sache ist gerecht. Nicht islamisch und nicht menschlich. Das war für mich wichtig, dass ich das draußen ganz klar sage.
Über das militärische Training in Syrien sagt er:
Manche, die aufgegeben haben, wurden ausgepeitscht vor versammelter Mannschaft. Und die mussten dann immer sagen: Wir sind Verlierer, wir sind Versager, weil wir das Training nicht aushalten.
Wie ein Freund ihn überredet habe:
Er hat zu mir gesagt: "Dort lebst Du unter einem Kalifat. Unter islamischen Gesetzen. Unter Gottes Gesetzen. Bruder, Du musst nicht kämpfen. Du kannst mithelfen, den Staat aufzubauen. Leute wie Dich brauchen wir dort unten." Aber natürlich war die Wahrheit eine andere, als wir dort waren.
Wie er als Selbstmordattentäter angeworben wurde:
All das, was jetzt passiert, haben die schon vorab angedeutet gehabt. Sie waren intensiv auf der Suche nach Leuten, die sich bereit erklärt haben, Anschläge in Europa auszuüben. Sie haben auch immer wieder gefragt: "Bist Du bereit, bist du bereit, nach Deutschland zu gehen oder nach England?" Und ich habe Nein gesagt. Und die haben immer wieder gesagt: "Wir haben immer wieder Kontakt mit Leuten in Deutschland und England. Bloß die bekommen immer wieder kalte Füße.
Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 16. Juni 2016, 19:30 Uhr