Datenbrillen: eine Schnapsidee oder in Bremen bald Alltag?
Datenbrillen haben ihren festen Platz in Bremer Forschung und Wirtschaft. Steht jetzt auch der Durchbruch bei Endkonsumenten bevor?
Im Schock erreicht ein Fahranfänger eine Unfallstelle mit zwei aufeinander geprallten Autos. Er wählt die 112 während er den Verletzten durch eine Herzdruckmassage versorgt. Die vorbeirauschenden Autos auf der Gegenfahrbahn und das dröhnende Martinshorn sind laut. Mit Blaulicht erreichen die Sanitäter den Unfallort. Die ersten Gaffer versperren den Weg, sie lachen, schießen Fotos. Die Konzentration muss jetzt hoch sein, die Ablenkungen machen das aber schwer. Die Einsatzkräfte treffen ein und eine Notärztin übernimmt.
Dann legt der Ersthelfer seine Virtual-Reality-Brille ab – das alles war nur eine Simulation. Eigentlich kniet der Fahrschüler vor einer Puppe in einem Trainingsraum.
Bremer Forschung hat Datenbrillen im Blick
So stellt sich Professor Björn Niehaves von der Universität Bremen die Zukunft von Erste-Hilfe-Kursen vor. Als Informatiker forscht Niehaves, wie seine Anwendung helfen könnte, Stress-Szenarien durch Datenbrillen realistischer zu machen. Seine Entwicklung kann Störgeräusche erzeugen und Lichter imitieren: besser auf den Notfall vorbereiten. Der Professor sieht großes Potential in Virtual-Reality-Brillen. Nicht nur für so spezifische Anwendungen wie Trainingsszenarien, sondern auch im ganz normalen Alltag.
Der Hype um die Datenbrillen ist bei Verbrauchern eingeschlafen
Schon vor zehn Jahren hat der Tech-Gigant Google mit seiner "Google Glass“ einen Versuch gestartet, den Massenmarkt zu erobern und Verbraucher zu überzeugen, dass tragbare Technik in unseren Alltag gehört – ohne Erfolg. Zu gering war die Funktionalität, zu kurz hielt der Akku und zu groß waren vor allem die Datenschutzbedenken. In so einer Datenbrille sind viele Sensoren und Kameras verbaut. Das lädt ein, heimlich Fotos und Videos zu machen.
Heute schauen die Menschen in der Bremer Straßenbahn 6 auf ihr Handy, nicht durch eine Computerbrille. Trotzdem oder gerade deshalb sind mittlerweile Microsoft und Facebook in den Markt eingestiegen. Die Unternehmen wollen mit ihren Brillen die Technikaffinen ansprechen. Anreize schaffen, die Arbeitstelefonate im digitalen Raum zu führen oder Computerspiele im 360-Grad-Format zu erleben. Die Anwendungen erreichen eine Zielgruppe, aber sie ist noch sehr klein. Der Rest erkennt noch nicht so ganz, wie diese Technik im Gesicht und zwei Controllern in der Hand dabei helfen sollen, eine Excel-Liste auszufüllen, WhatsApp-Nachrichten zu beantworten oder die Tagesschau zu gucken.
In der Industrie sind Datenbrillen schon lange Alltag
Während US-Konzerne viel Energie und Geld in Technik und Marketing stecken, um Endkonsumenten zu überzeugen, sind Datenbrillen in vielen Industrie-Branchen lange Standard. In Bremen arbeiten 76 Mitarbeitende beim Software-Unternehmen TeamViewer an neuen Anwendungen, zum Beispiel für die Logistikbranche. Stefan Baumgart ist verantwortlich für das Produktmanagement von TeamViewer und erklärt, wie der Kunde DHL von der Technik profitiert. Beim Sortieren und Versenden der Pakete können die Mitarbeitenden mit der Brille kleine, digitale Fenster neben den Paketen einblenden und erhalten zusätzliche Informationen.
Die Menschen im Lager haben die Hände frei, um Pakete zu packen.
Stefan Baumgart, Director Product Management beim Bremer Standort von TeamViewer
Mittlerweile tragen DHL-Mitarbeitende die Datenbrillen den ganzen Arbeitstag lang. Das steigere die Produktivität, so Baumgart, um bis zu 30 Prozent. Auch die Automobil- und Nahrungsmittelindustrie setzen die Vorteile von Datenbrillen in ihrer Produktionskette ein. Die Technik scheint in der Industrie zuhause zu sein – nicht in unseren vier Wänden.
Mit dem Zustand will sich Apple nicht zufrieden geben
Nach jahrelangen Gerüchten ist nun auch der iPhone-Konzern in den Wettbewerb der Datenbrillen eingestiegen. Mit der Apple Vision Pro hat der US-Konzern Anfang Juni präsentiert, wie jetzt der Durchbruch auf dem Massenmarkt gelingen soll. Sie sieht aus wie eine futuristische Skibrille. Zum Bedienen kann der Träger seine Finger benutzen und in der Luft die virtuellen Fenster bewegen. Die Brille weiß, wo er hinschaut und führt Befehle via Sprachsteuerung aus. Für Professor Niehaves ist das durchaus neu.
Wenn Apple irgendwo einsteigt, ist die Nutzerfreundlichkeit immer richtig gut. Die Leute haben Bock das zu nutzen. Da ist ein Bedarf, der erzeugt wird.
Björn Niehaves, Leiter der Arbeitsgruppe Digital Public an der Universität Bremen
Fest steht, dass Apple mit dem eigenen Ökosystem aus iPhone, iPad und Mac eine große Kundenplattform hat und großes Vertrauen genießt. Hier sieht Niehaves einen Wettbewerbsvorteil, der zu einem entscheidenden Erfolgsfaktor werden könnte. Das Problem mit dem Datenschutz löse allerdings auch Apple nicht. Und der Akku soll nur zwei Stunden lang halten. Dazu kommt der hohe Preis. Rund 3.500 US-Dollar wird die Brille kosten und erst Anfang nächsten Jahres in den USA erhältlich sein. Der Verkaufsschlager Apple-Brille in Deutschland ist auf kurze Sicht also noch nicht absehbar.
Die Technik behält ihre Daseinsberechtigung
Für den Informatik-Professor an der Universität Bremen wäre ein durch den Apple-Markteintritt wachsendes gesellschaftliches Interesse für seine Forschung von Vorteil. Noch arbeitet Niehaves mit seinem Team an der Erste-Hilfe-Anwendung. Diesen Sommer möchte er sie an Menschen testen und sehen, wie sie bei den Erste-Hilfe-Kursen unterstützen kann. Wenn die Forschung positive Ergebnisse zeigt, könnte eine Kooperation mit den Maltesern im Raum stehen. Eine Integration auf Apples Datenbrille ist denkbar. Auch die Bremer Software-Entwickler von TeamViewer besprechen derzeit, ob sie ihre Anwendungen künftig auch auf der Apple-Brille anbieten werden. Ob Datenbrillen über die Kundschaft von Industrie und Forschung hinaus erfolgreich sein werden und sich bei uns im Alltag etablieren, bleibt jedoch weiter unklar.
Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, Der Morgen, 6. Juni 2023, 8:47 Uhr