Wie der Bremer Stadtteil Tenever eine Oper komponiert

Bremer Schüler und Spitzen-Musiker führen Stadtteiloper in Tenever auf

Bild: Jörg Sarbach

Tenever – ein Bezirk, der vor allem als sozialer Brennpunkt bekannt ist. Die Bremer Kammerphilharmonie bringt die Oper dorthin und der ganze Stadtteil macht mit.

Mitten auf einem grünen Hügel zwischen den Hochhäusern Tenevers steht es: Ein großes Zirkuszelt, umgeben von kleineren Zelten. Hinter der Zaunabsperrung wuseln Kinder, Jugendliche und Erwachsene hektisch hin und her. "Wissen jetzt alle, wo sie gleich hinmüssen?", ruft eine Frauenstimme. Eine Gruppe von Kindern in goldenen Kostümen stellt sich vor dem Eingang des Zeltes auf – bereit für ihren Auftritt. In dem Zelt wird nämlich die Oper "Odyssee zum Mond" geprobt.

Zugang ohne Vorkenntnisse

Es handelt sich um die 9. "Stadtteiloper". 600 Menschen aus dem gesamten Bezirk Tenever sind beteiligt – vor allem Schülerinnen und Schüler der Gesamtschule Bremen-Ost. Gemeinsam mit den professionellen Musikern der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen und der Mezzosopranistin Sarah Théry stehen die Jugendlichen auf der Bühne – als Schauspieler, Sänger und Musiker des Orchesters. Organisiert wird das Ganze vom Zukunftslabor, einer Kooperation der Gesamtschule und der Kammerphilharmoniker.

Die kaufmännische Geschäftsführerin Imke Poeschel betont vor allem den gemeinschaftlichen Ansatz des Projekts. "Selbst das Kostüm der Hauptdarstellerin wurde in 6 Wochen von über 50 Menschen im Mütterzentrum Tenever gestaltet, dafür musste man nicht nähen können – so ein Zugang war uns wichtig." Auch mögliche Herausforderungen wie Proben während des Fastenmonats Ramadan wurden berücksichtigt. "Etwa die Hälfte hier hat gefastet während der Proben, in Absprache mit der muslimischen Gemeinde haben wir uns darauf eingestellt und Rückzugsräume oder ein gemeinsames Fastenbrechen organisiert."

Musik von Schülern selbst komponiert

Jugendliche tragen gold-silberne Glitzer-Kostüme
Von den Kostümen, über die Musik bis zum Text entstand alles partizipativ. Bild: Jörg Sarbach

In Tenever wohnen etwa 10.000 Menschen aus 90 Nationen – ein Drittel davon unter 18. Unter den Minderjährigen liegt die Migrationsrate bei 86 Prozent. Außerdem ist mehr als ein Drittel der Bewohner des Stadtteils von Sozialleistungen abhängig. "Odyssee zum Mond" ermöglicht den Beteiligten einen Einblick in die Welt der Oper, des Orchesters und des Komponierens.

So war auch der 14-jährige Sinan Malik Tastan Mitglied der Klassen, die die Musik komponierten. In einer Opernaufführung war er noch nie, aber seit dreieinhalb Jahren lernt er Schlagzeug und Klavier. "In dem Flur unserer Schule steht ein Klavier, da habe ich mich einfach hingesetzt und gespielt, so fing es an." Auch in "Odyssee zum Mond" spielt er Klavier – seinen Part hat er selbst komponiert, ganz ohne Noten.

Inzwischen kann ich zwar Noten lesen, aber ich spiele lieber ohne. Ich habe mir gemerkt, was ich mache.

Sinan Malik Tastan (14), Schüler der Gesamtschule Bremen-Ost

Das Komponieren sei auch das beste an dem Prozess gewesen – zu sehen, wie ein Orchester arbeite und wie aus den eigenen Versuchen ein Stück werde, habe ihm besonders gefallen.

Alle Altersstufen auf der Bühne

Im Lockdown entstand die Idee des Stücks. Die Geschichte wurde ebenfalls kooperativ aus Notizen und Aufnahmen der Schüler von Autorin Mehrnoush Zaeri-Esfahani geschrieben. Das Fundament war vor allem eine Notiz: "Ich wünschte, ich könnte zum Mond fliegen und aus meiner Dunkelheit rauskommen". Sie setzte den Grundstein für die Handlung: Eine Odyssee zum Mond – zum Licht.

Erstes Modell der Opern-Bühne
Die runde Bühne in der Zeltmitte ist eine besonders Herausforderung für die Inszenierung. Bild: Wolfgang Rußek

Seitdem arbeiten selbst die Kleinsten der Schule daran mit, die inzwischen in der 6. Klasse sind. Ayleen Kenzataev und Jan Schmidt sind beide 12 Jahre alt und übernehmen keine Sprechrollen – ihre Klasse werde zu Beginn und am Ende auf der Bühne mit Hebefiguren, Gestik und Formationen auftreten. "Wir proben jetzt seit vier Monaten immer zweimal die Woche", so Ayleen. Trotz der intensiven Proben sind sie bereits aufgeregt. Einen Bezug zu Opern hatten sie zuvor nicht, die Musik in dem Stück gefalle ihnen aber: "Ich finde vor allem faszinierend, wie die Sängerin singen kann", erzählt Jan. Die jungen Schüler stehen auch gemeinsam mit Senioren eines Stadtteilchores auf der Bühne.

"Musik ist die Sprache"

Die ungewöhnliche Zusammenarbeit zwischen Laien und professionellen Musikern für eine komplette Oper funktioniert laut Poeschel besonders durch den niedrigschwelligen Ansatz.

Wir stellen uns nicht hin und sagen: Ihr müsst Mozart, Beethoven und Brahms gut finden. Sondern wir zeigen, wie Musik zum Erlebnis wird. Dafür braucht man nicht mal Sprache oder Vorkenntnisse. Musik ist die Sprache.

Imke Poeschel, Zukunftslabor

Im Zelt erklingt diese Musik – wie sie entstanden ist, wäre ohne das Wissen darum wohl kaum erkennbar. Über dem Orchester hängt der Vollmond, das Ziel der Odyssee. Noch ist es so dunkel, dass man kaum die Hand vor den Augen sehen kann. Die Reise zum Licht kann beginnen.

Mehr zum Thema:

  • Bremer Integrationsarbeiterin: "Immer mehr Menschen brauchen Hilfe"

    Seit zwölf Jahren arbeitet Mihdiye Akbulut im Mütterzentrum Osterholz-Tenever. Zuletzt seien die Sorgen der Menschen immer größer geworden, sagt sie.

  • So treffen Inflation und Energiekrise Bremer Mütter in Tenever

    Die Energiekrise und die Inflation treffen alle Menschen. Besonders hart erwischt es aber diejenigen, die ohnehin wenig haben. Das Mütterzentrum in Tenever spürt das deutlich.

Autorin

Dieses Thema im Programm: buten un binnen, 19. April 2023, 19:30 Uhr