Warum diese Gastarbeiter-Tochter nicht gerne Koffer packt
Carmen Castro erzählt unserem Reporter Mario Neumann von ihrem geerbten Trauma – und wie das dazu führte, dass sie Trauma-Therapeutin wurde.
Carmen Castro ist Körper- und Trauma-Therapeutin in Bremerhaven. Zunächst macht sie eine Ausbildung zur Chemielaborantin, arbeitet in der Qualitätssicherung der Lebensmittelindustrie. Doch Castro merkt immer wieder, dass das nicht alles sein kann – sie hört auf ihr Herz und beginnt mit therapeutischen Ausbildungen nebenher. Jetzt ist sie mit einer eigenen Praxis selbstständig.
Einen wichtigen Einfluss in ihrer Arbeit hatten Castros Eltern. Sie ist die Tochter von Gastarbeitern. Die Eltern kommen Mitte der 60er Jahre aus Spanien nach Norddeutschland, um hier in der Fischindustrie zu arbeiten, lernen sich in Cuxhaven kennen. Doch so richtig heimisch werden sie an der Elbmündung nicht. Der Plan: Nur ein paar Jahre etwas Geld verdienen, dann geht es zurück nach Galizien.
Dementsprechend wächst Carmen die ersten fünf Jahre ihres Lebens bei den Großeltern in Spanien auf. Ihre Großmutter betrachtet sie als ihre Mutter, bis sie nach Deutschland kommt – ohne Sprachkenntnisse, ohne Bindung zu den eigenen Eltern.
Das war schon Trennungstrauma.
Carmen Castro
Jeder Verwandtenbesuch war ein Highlight, das Kofferpacken für die Rückreise nach Deutschland hingegen mit Trauer und Schmerz verbunden.
Sehnsucht nach Heimat
"Wir bleiben nur noch ein Jahr in Deutschland“, meinten Castros Eltern immer wieder. Doch sie haben den Absprung nicht geschafft. Zu groß war die Unsicherheit, die Angst davor, den erreichten Lebensstandard in Galizien nicht halten zu können.
Es dauert ein Leben, bis Castros Vater schließlich heimkehrt, vom Bestattungsunternehmen überführt. Vererbt hat er ihr eine Art Zerrissenheit, das Gefühl, nie wirklich angekommen zu sein. Die ewige Sehnsucht, nach Spanien zurückzukehren. Castro will das nicht verallgemeinern, sie weiß, dass hier viele Gastarbeiter ihr echtes Glück gefunden haben. Aber, auch wenn es hart klingt, ihre Eltern sind hier nicht glücklich geworden.
Hier hatten sie immer die Sicherheit, dass sie einen festen Arbeitsplatz haben. Aber das Herz ist auf der Strecke geblieben.
Carmen Castro
Eine Woche vor seinem 54. Geburtstag bekommt Castros Vater Leukämie und stirbt. Aus Castros Sicht gibt es da einen Zusammenhang mit der nie angenommenen Lebenssituation in Norddeutschland. Er habe immer davon gesprochen, dass er zurück will. "Deswegen ist es umso wichtiger gewesen, dass ich mich damit auseinandersetzte und das für mich kläre, und diese Last, diese übernommen Traumata, Ängste und Gefühle, dass ich das für mich bearbeite."
Castros Lebensmittelpunkt ist in Bremerhaven
Die Eltern waren zwar physisch in Cuxhaven zu Hause, aber nicht vom Herzen her. Es ist anfangs nicht leicht für die Tochter, den Trauerort weit weg zu haben. Aber sie liebt ihre Eltern, besucht die Mutter im Pflegeheim, ist auch gerne am Grab des Vaters in Spanien. Auf dem Sterbebett sagt er noch "Oh mein Gott, und das Haus in Spanien" – das hat Carmen Castro geprägt.
Ihr wurde bewusst: Das letzte Hemd hat keine Taschen. Deshalb ist ihr Motto: Vorher bewusst leben! Castros Lebensmittelpunkt ist Bremerhaven und Umland. Schon mit 17 Jahren merkt sie, dass sie nicht nur in Deutschland geboren, sondern auch hier zu Hause ist und in Deutschland leben möchte. Vielleicht später als Rentnerin ein paar Monate im Jahr nach Spanien, sagt sie und lächelt, aber definitiv nicht für immer.
Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, Eine Stunde reden, 8. März 2023