Mutter und Tochter pflegen ehrenamtlich Gräber in Hastedt
Bei 800 Gräbern gibt es keine Angehörigen mehr. Die Jüdische Gemeinde kümmert sich darum, kann jedoch jede Hilfe gebrauchen. Molly und ihre Mutter helfen aus.
Eine Straßenbahn rattert über die Gleise im Bremer Stadtteil Hastedt. An der Ampel stehen Autos, ein gelber Paketlaster parkt halb auf dem Radweg. Schüler auf Fahrrädern und Eltern mit Lastenrädern fahren vorbei. In einer der Wohnstraßen, abseits der Hauptstraße, verhallt aber der Straßenlärm. Zwischen den Altbremer Häusern steht ein meterhohes eisernes Tor. Eine schmale, mit Büschen zugewachsene Gasse führt zum Eingang des Jüdischen Friedhofs. Mit jedem Schritt wird es stiller.
Der Friedhof als Ruhepol
Die Bremerin Elin Schirmer ist an diesem wolkenlosen Septembertag mit ihrer Tochter Molly dorthin gekommen. Sie gehen jeden Dienstag zu einem der Gräber und pflegen es. Die beiden sind gern auf Friedhöfen. "Hier finden wir es richtig schön, da wo diese ganz alten Grabsteine stehen", sagt Elin Schirmer und zeigt auf eine Ecke neben der Kapelle, in der verwitterte graue Grabsteine auf einer schlichten grünen Wiese stehen.
"Ich hatte schon als Kind keine Angst vor Friedhöfen, bin auch nachts als Abkürzung drüber gegangen und meine Freunde haben immer gesagt, findest du das nicht gruselig? Und ich hab‘ immer gesagt, da sitzt doch keiner nachts und wartet", erzählt die 49-Jährige. Auch ihre Tochter Molly hat keine Angst vor dem Friedhof: "Ich mag’s auch gern, dass es so ruhig ist und wenn alles so friedlich ist", sagt die Achtjährige.
Alle Familien wurden einfach mitgenommen und umgebracht. Deshalb sind viele Generationen, die hier beerdigt sind, ohne Verwandte geblieben.
Friedhofsverwalter Alexander Tulmann
Die beiden wohnen in der Nähe des Friedhofs. Durch einen Aushang wurden sie darauf aufmerksam, dass die Gemeinde Paten für die Gräber suchte: eine Idee von Friedhofsverwalter Alexander Tulmann. Denn bei vielen Gräbern gibt es keine Verwandten, die sich darum kümmern können. "Alle Familien wurden einfach, stellen Sie sich vor, einfach mitgenommen und umgebracht. Deshalb sind viele Generationen, die hier beerdigt sind, ohne Verwandte geblieben", erzählt er.
Für Molly und ihre Mutter war sofort klar, dass die Grabpflege das richtige Ehrenamt für sie ist, auch wenn sie selbst keine Jüdinnen sind. "Also eigentlich wollte ich schon vorher immer mal ein Grab machen und hier haben wir es dann gemacht, weil wir es hier auch durften und hier um Hilfe gebeten wurde", erzählt Molly.
Weil ihre Schule neben dem Friedhof war, sind die beiden Bremerinnen häufig dort gewesen. "Molly hat auf die verwaisten Gräber Steine und Nüsse gelegt und ich habe gesagt, wir können nicht einfach auf dem Friedhof ein Grab schön machen und so tun, als wären wir die Verwandten", erzählt Elin Schirmer.
Mit Harke und Gieskanne gegen das Vergessen
Nachdem sie am Eingang ein Teelicht gekauft haben, gehen die beiden den schmalen Kiesweg zum Grab. "Du nimmst die Harke Molly, und dann suchen wir noch eine Gießkanne", sagt Elin Schirmer zu ihrer Tochter. Vor einem der grauen Grabsteine bleiben die beiden stehen. "Da steht Berta, ist aber sehr schwer zu lesen, deshalb habe ich schon mal versucht, das nachzuritzen, aber so richtig deutlich ist das immer noch nicht zu sehen", sagt Molly Baumann und kniet sich ins Gras, das um das kleine Beet herum wächst. Sie harkt mit einer kleinen Harke das Unkraut aus dem Beet.
Es geht vor allem darum, dass wirklich jemand zu Besuch kommt. Also es ist wirklich diese Geste. Wir besuchen dich, wir lassen einen Stein da. Wir haben dich nicht vergessen.
Elin Schirmer
Der achtjährigen Molly tun die Gräber leid, um die sich niemand kümmert: "Weil die Gräber ja auch nichts dafür können, dass die anderen älter werden. Und dann finde ich auch, dass die auch verdient haben, ein schönes Grab zu kriegen."
Ihre Mutter schiebt ein Teelicht in eine kleine Laterne und die beiden legen einen Stein auf den Grabstein. Immer wenn sie zum Grab gehen, bringen sie einen kleinen Stein mit. Es ist eine jüdische Tradition, einen Stein beim Besuch auf den Grabstein zu legen, als Symbol etwa für die Verbindung zwischen den Generationen. "Es geht vor allem darum, dass wirklich jemand zu Besuch kommt. Also es ist wirklich diese Geste. Wir besuchen dich, wir lassen einen Stein da. Wir haben dich nicht vergessen."
Wen die beiden da jede Woche besuchen, das wissen Molli und Elin Schirmer nicht genau: Der Name Berta Freudenberg ist auf dem verwitterten Grabstein noch zu erkennen, die Jahreszahlen nur noch zu erahnen. "Also die ganz alten Gräber, da weiß keiner etwas drüber. Die hat wohl keine Familie mehr und das sind dann wirklich so ehrenamtliche Leute, die helfen", erzählt Elin Schirmer.
Ausgleich und Gesprächsanlass
Nach getaner Arbeit sitzt sie mit ihrer Tochter Molly vor dem Grab im Gras. Die großen Eiben und Kiefern spenden Schatten. Hinter ihnen reihen sich graue und schwarzen Grabsteine aneinander. Der kleine Friedhof ist eine ruhige Oase, in der sich die beiden entspannen können. "Molly mag’s tatsächlich ruhig nach der Schule, ihr ist es zu laut in der Schule und mir ist es auch zu laut in der Schule. Deswegen brauchen wir danach ein bisschen Ausgleich", sagt Elin Schirmer. Sie arbeitet als Lehrerin in einer Bremer Grundschule.
Dass der Zufall die Bremerin gerade auf einen jüdischen Friedhof geführt hat, nimmt sie zum Anlass, mit ihrer Tochter über Ausgrenzung, Antisemitismus und Rassismus zu sprechen. "Molly weiß schon viel über den Nationalsozialismus und vielleicht mehr als manche in dem Alter", erzählt die Bremerin. Ihr ist es wichtig ein Zeichen zu setzen "und wie wichtig es ist, dass jeder andere Rituale hat und dass jeder aber so frei ist, dass jeder es machen kann, wie er eben gerne möchte und dass er deswegen nicht diskriminiert werden darf."
Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, Der Samstagvormittag, 23. September 2023, 13:40 Uhr