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Bremer Schulen überlastet: Immer weniger Zeit für Fachunterricht

Schüler einer Grundschule arbeiten in einem Klassenzimmer an Mathematikaufgaben.
Der Anteil an Erziehungsarbeit an Schulen wird immer wichtiger und nimmt immer mehr Zeit in Anspruch. Bild: dpa | Bernd Weißbrod

Die Förderbedarfe von Schülern werden in Bremen vielfältiger. Das führt zu immer mehr pädagogischer Arbeit an den Schulen und erschwert den Fachunterricht.

Die Schulen in Bremen sehen sich mit einer Vielzahl zusätzlicher Aufgaben konfrontiert, weil immer mehr pädagogische Arbeit geleistet werden muss. "Der Anteil an Erziehung wurde und wird wichtiger und nimmt immer mehr Zeit in Anspruch", sagt Ramona Seeger, Sprecherin der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). "Erziehungsarbeit hat stark zugenommen, weil sich die Schule hin zum Ganztag verändert und weil sich die Bedürfnisse der Schüler verändert haben", sagt auch die Schulleiterin der Kinderschule in Hemelingen, Philine Schubert.

Die Lehramtsstudentin und Berufseinsteigerin Emilia Lange, die eigentlich anders heißt, arbeitet seit etwa drei Jahren regelmäßig als Lehrerin in Grundschulen und kann bestätigen, dass Erziehungsarbeit einen großen Teil des Unterrichts einnimmt. "Man schlichtet Streit und spricht mit den Kindern darüber, was sie beschäftigt", sagt sie. Beide Lehrkräfte schätzen, dass rund 50 Prozent der Zeit mittlerweile für Erziehungsarbeit aufgewendet werden muss.

Viele Kinder haben ein Fluchttrauma und benötigen psychologische Unterstützung.

Ramona Seeger, Sprecherin der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW)

Warum muss überhaupt mehr Erziehungsarbeit geleistet werden?

Aktuell brauchen 43,5 Prozent der Schülerinnen und Schüler an Bremer Grundschulen Sprachförderung, da sie Deutsch nicht als Erstsprache sprechen. In Bremerhaven sind es sogar 44,5 Prozent. Für Lehrkräfte heißt das mehr Arbeit neben dem eigentlichen Unterricht. Lange kennt das Problem: "Wenn ein Kind noch nicht auf dem Sprachniveau der Klasse ist, kann es passieren, dass es nicht mitkommt, weil die Kapazität fehlt, auf alles zu achten", sagt sie.

Zusätzliche hätten auch immer mehr Kinder belastende Fluchtgeschichten erlebt. "Viele Kinder haben ein Fluchttrauma und benötigen psychologische Unterstützung", sagt die Sprecherin der Gewerkschaft, Ramona Seeger. "Wir haben vermehrt Kinder, die ganz schön was durch haben", bestätigt die Schulleiterin der Kinderschule in Hemelingen, Philine Schuber, "und dann haben wir noch Lehrwerke, in denen die Schüler gar nicht vorkommen und Lehrwerke, die nicht frei von Rassismus sind."

Wie könnten Sprachförderung und Integration in Zukunft besser im Unterricht gelingen?

Seeger wünscht sich mehr Lehrkräfte, die die Sprachen der Schüler sprechen. "Es geht auch um Wertschätzung der eigenen Sprache. Viele merken, dass sie zwar eine Sprache sprechen können, dass das aber scheinbar nicht die gewünschte ist." Sie regt an, Kurdisch, Türkisch und Ukrainisch als zweite Fremdsprachen anzubieten. Schubert wünscht sich eine stärkere Nutzung von digitalen Hilfestellungen und mehrsprachige Unterrichtsmaterialien: "Textaufgaben kann man auch in die Herkunftssprache übersetzen, das wäre sinnvoll und fair und heißt auch nicht, dass die Kinder kein Deutsch lernen, nur dass sie überhaupt am Unterricht teilhaben können", sagt sie.

Außerdem sei es sinnvoll, das kulturelle Kapital der Schüler zu nutzen, damit sie und ihre Geschichten im Unterricht vorkämen. Auch Lange möchte mehrsprachigen Unterricht machen. "Wenn man über Inhalte von Texten redet, kann es total helfen, wenn die Kinder das Buch vorher in ihrer jeweiligen Erstsprache gelesen haben." Wie wichtig mehrsprachiges Personal ist, verdeutlicht sie an einem Beispiel: "Im Kunstunterricht war letztlich ein Kind, das nur wenig Deutsch sprach, aber eine der Studierenden konnte Türkisch, dadurch konnte es viel besser am Unterricht teilhaben."

Welche Faktoren steigern den Bedarf an Erziehungsarbeit noch zusätzlich?

Als eine weitere Ursache sieht Gewerkschaftssprecherin Seeger die Kinderarmut in Bremen. "Arme Familien haben weniger Möglichkeiten den Kindern Bildung mitzugeben, also Nachhilfe zu bezahlen oder mal ins Kindermuseum zu gehen", sagt sie. Philine Schubert kennt das Problem auch: "Armut geht oft mit Beschämung einher. Auf die Frage, ob sie ein Frühstück dabei hätten, sagen dann viele, dass sie gar keinen Hunger haben. Deswegen haben wir damals im Referendariat ein Frühstück angeboten. Das war zusätzliche Arbeit, aber sehr sinnvoll."

Ein weiteres Problem sieht die GEW darin, dass immer weniger Schüler eine Kita besucht hätten und deswegen mehr individuelle Förderung nötig sei: "Viele kennen ein anderes Schulsystem und haben keine Kita vorher besucht", sagt Seeger. Das führt laut Schubert zu stark unterschiedlichen Grundvoraussetzungen bei den Schülern: "Auch wegen Corona waren weniger Kinder in einer Kita. Manche können sich noch nicht die Schuhe anziehen oder den Popo abwischen", sagt sie. Für Lehrerin Lange ist deswegen individuelle Förderung ein wichtiger Bestandteil des Unterrichts: "Es ist gut, wenn man für die unterschiedlichen Niveaus verschiedene Aufgaben oder Stationen anbieten kann, aber das heißt natürlich auch, dass man nicht einen Wochenplan vorbereitet, sondern vier."

Wie kann man diesen Problemen begegnen?

"Es braucht gute Ganztagsangebote mit einer verlässlichen Hausaufgabenbetreuung oder Nachhilfeangebote, die im Alltag integriert sind. Das kann finanziell schwache Haushalte entlasten", sagt Seeger. Auch Schubert tritt für eine Verbesserung des Ganztages ein: "Wir brauchen Angebote, in denen sich die Kinder bewegen können. Lange Flure und kleine Zimmer reichen für den Ganztag nicht aus. Die Schule sollte Lern- und Lebensort für Kinder sein." Doch für solche Forderungen braucht es mehr Personal. "Gerade in Bremen haben wir wahnsinnig viel Personalmangel und können den Ansprüchen leider kaum gerecht werden", sagt die gewerkschaftssprecherin. Auch Lange glaubt, dass man mehr Lehrkräfte braucht. "Sobald mehr erwachsene Personen im Raum sind, entspannt sich die Stimmung. Persönliche Assistenzen, Sozialarbeiterinnen oder auch Zweitbesetzungen sind oft nötig", sagt sie.

Die Bremer Landesregierung hatte in ihrem Koalitionsvertrag noch angekündigt, zusätzliche Erzieherinnen in den Grundschulen einzustellen. Nachdem zwischenzeitlich das ganze Vorhaben gestrichen worden war, sollen nun laut dem Ressort insgesamt 35 zusätzliche pädagogische Kräfte an allen Bremer Grundschulen mit besonders hohem Bedarf eingestellt worden sein. In Bremerhaven seien seit dem Schuljahr 2022/23 insgesamt 5,5 zusätzliche Vollzeitstellen hinzugekommen.

Wie geht es den Lehrkräften mit der aktuellen Situation?

Die Lehrkräfte sind laut Seeger bereits an ihrer Belastungsgrenze. "Sie wollen das Beste für ihre Schüler, aber müssen sehr viel auffangen. Der Krankheitsstand spricht Bände." Schubert verweist ebenfalls auf die vielen Krankheitsfälle und bestätigt, dass der Beruf als sehr belastend wahrgenommen werde.

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Autor

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